Ausgabe 08 - 1998berliner stadtzeitung
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Da sind wir aber immer noch

Neue Redaktion, neues Layout-die Ostberliner Zeitschrift telegraph meldet sich zurück

Auferstanden aus Ruinen: Nachdem es Mitte letzten Jahres ganz danach aussah, als befände sich die Ostberliner Zeitschrift telegraph am Ende, kehrt das totgeglaubte Blatt nun mit seiner hundertsten Ausgabe zurück.

Die von der Umweltbibliothek herausgegebene Zeitschrift repräsentierte über lange Zeit den linken und linksradikalen Flügel der ostdeutschen Bürgerbewegung. Hervorgegangen war der telegraph aus den oppositionellen "Umweltblättern". Auf dem Höhepunkt der "Wende" 1989 wurde der telegraph gegründet, um dem enormen Informationsbedarf dieser chaotischen Zeit gerecht zu werden. Das Heft kam sogar zeitweise alle zwei Wochen heraus und faßte alles zusammen, was irgendwo in der DDR passierte. Nach der Annexion der DDR ging es mit dem telegraph bergab.

Das letzte Lebenszeichen der Zeitschrift war eine Notausgabe im Juni 1997. Seitdem war von ihr nichts mehr zu hören. In erster Linie lähmte der ständig drohende finanzielle Zusammenbruch die Arbeit an einem neuen telegraph. Diese Situation war vor allem auf die schlechte Zahlungsmoral von einigen AbnehmerInnen zurückzuführen. So steht noch heute ein Westberliner Infoladen mit 5000 DM beim telegraph in der Schuld.

Doch nicht nur leere Konten, auch die wachsende Nichtbeachtung einer überalterten Oppositionsbewegung trieb den telegraph in die Krise. Die Flucht von Lengsfeld, Nooke, Barbe und anderen aus der bürgerbewegten Bedeutungslosigkeit mittels CDU-Beitritt vor jedes Mikrofon und jede Kamera förderte die Orientierungslosigkeit und Desillusionierung der alten DDR-Oppositionellen öffentlichkeitswirksam zutage. Die Frage, ob die sogenannte "Wende" den jetzigen Sozialabbau- und Abschiebestaat BRD erreichen wollte, wie es anscheinend die CDU-Umfaller sehen, oder ob es nicht um eine eigenständige Alternative zu DDR und BRD ging, mußte neu beantwortet werden. So wurde die alte Redaktion des telegraph um junge ostdeutsche Autoren, die sich überwiegend 1989 politisiert haben, erweitert. Deren Bezugspunkte zum telegraph bilden die antikapitalistischen, spezifisch ostdeutschen Lösungsansätze. Politisch steht die neue Besetzung, wie sie selbst im Editorial verkündet, zwischen der Bürgerbewegung, der PDS und den Autonomen. Mit einer neuen Redaktion und neuem Layout wird jetzt ein Neuanfang versucht. Alle drei Monate soll die Zeitschrift nun zum Preis von sechs Mark erscheinen.

Die neueste Ausgabe des telegraph beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der "Kolonialisierung Ostdeutschlands". Doch nicht nervige "Ostalgie" im Stile von Frank-Schöbel-Biographien und Ostrock-Parties ist Ausgangspunkt der Beiträge, sondern eine Analyse der politischen und ökonomischen Verhältnisse in den sogenannten "Fünf Neuen Bundesländern".

Die zentralen Artikel zur wirtschaftlichen Einverleibung der ehemaligen DDR durch den Westen und zur Problematik, inwiefern es eine Ost-Identität über Super-Illu-Niveau hinausgehend überhaupt noch geben kann, werden ergänzt durch ein Interview mit dem ehemaligen RAF- und "Bewegung 2. Juni"-Mitglied Inge Viett. Darüber hinaus beschäftigt sich diese Nummer mit dem Staatskapitalismus in Kuba und - am Beispiel der Hitler-Ehrenbürgerstadt Wurzen - mit aktueller antifaschistischer Politik.

Die Sichtweise der AutorInnen jedoch, die als "spezifisch ostdeutsch" benannten Probleme losgelöst von einem globalen Umwälzungsprozeß zu betrachten, scheint etwas zu sehr verkürzt. Dezidiert separatistische Lösungsansätze zu fordern, birgt die Gefahr in sich, nur begrenzt ernstgenommen zu werden. Sie erwecken den Eindruck, als wolle man sich einen eigenen kleinen Sozialismus im Sandkastenparadies erschaffen, in dem Außenstehende nicht mitbuddeln dürfen. Trotzdem bleibt nach der Lektüre die Einsicht in die Notwendigkeit einer ostdeutschen Linken unabhängig von Stasi-Paranoia, DDR-Nostalgie und Autonomen-Kitsch.

Rainer Rutz

Zu beziehen über: telegraph, Schliemannstr. 23, 10437 Berlin, Tel. 4445622

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