Zu guter Letzt 17 Jahre scheinschlag-Geschichte
Der richtige Augenblick und die Chance
beim Schopf packen
Die Idee zu einer neuen, unabhängigen
Zeitung kam 1990 am „Runden Mitte-Tisch" der besetzten
Häuser auf, man wollte sich auch in einer breiteren
Öffentlichkeit äußern. Die DDR war soeben
verschwunden, die Mainzer Straße geräumt und selbst
für die Kaninchen auf dem Potsdamer Platz waren die ruhigen
Zeiten vorbei. Die Texte lagen quasi in der Luft, mußten nur
noch geschrieben werden, das Anliegen war jedenfalls in groben
Zügen klar. Aber ein Konzept, eine Struktur mußte
her, wie man eine Zeitung aus dem Nichts auf die Beine stellen konnte.
Ein ausgefeilter Gründungsplan wurde
schließlich auf einem der Plena im Schokoladen vorgestellt.
Er sah zum einen eine hohe Startauflage von 25000 Exemplaren vor, da
sich erst ab dieser Stückzahl große Anzeigenkunden
einwerben lassen, zum anderen sollte die Zeitung kostenlos an
öffentlichen Orten in Mitte zum Mitnehmen ausliegen. So
entfiel die aufwendige Einzelverkaufsabrechnung, außerdem
hatte man noch ein weiteres zugkräftiges Argument für
die Anzeigenkunden parat („Die kann jeder mitnehmen!"), denn
der Druck sollte allein über Anzeigen finanziert werden. Die
Anzeigenakquise und den Vertrieb wollten die Beteiligten selbst
übernehmen, Engagement für die Sache war also in
allen Belangen gefragt. Im Hintergrund hatte man vorab für die
Idee einer unabhängigen Zeitung schon rund 15
Unterstützer gewinnen können, die unter anderem die
technische Ausstattung mit Computern sicherstellen wollten.
Denn nicht nur die Themen waren zum Greifen nah,
selbst die Produktion einer Zeitung konnte in die eigenen
Hände genommen werden. Die Technik hatte damals eine
revolutionäre Schwelle erreicht: Computer und Programme hatten
sich dahingehend entwickelt, daß professionelle Layout-,
Grafik-, Bild- und Textbearbeitung im heimischen Wohnzimmer abgewickelt
werden konnten. Für eine unabhängige Presse,
für engagierte, idealistisch agierende Journalisten war dies
der Beginn einer neuen Ära.
Die Zustimmung zur Gründung der Zeitung
war auf dem Plenum dementsprechend einhellig, einzig die enorm
optimistische Startauflage rief große Heiterkeit hervor. Zur
ersten Redaktionssitzung allerdings erschien nur Willi Ebentreich, der
Vater des Gründungskonzepts. Kurzerhand wurden per
ausgehängter Plakate schließlich doch noch die
ersten Mitstreiter gefunden, die zügig loslegten. Die erste
scheinschlag-Ausgabe erschien am 23. November 1990, damals noch mit dem
Titelzug in fetter Frakturschrift. Die Leser sollten
überrascht werden, steht doch die Frakturtype eher
für konservative, rechts angesiedelte Inhalte. Im Laufe der
nächsten Ausgaben wurde ein funktionales, flexibles
Grundlayout gefunden, das für jeden leicht zu handhaben sein
sollte man stellte sich realistischerweise von Anfang an auf
wechselnde Mitarbeiter ein.
Die Türen der Redaktionsräume
standen immer offen: Fotografen brachten ihre Bilder und Zeichner ihre
Comics und Illustrationen vorbei, wieder andere berichteten von
Ereignissen in ihrer direkten Umgebung, über die unbedingt
geschrieben werden müsse. Schließlich wurde die
regelmäßige Offene Redaktionssitzung im
Café Village Voice eingeführt. Die Redaktion griff
entweder die herangetragenen Themen auf oder aber ließ die
Informanten gleich selbst aus ihrer ganz persönlichen Sicht
darüber schreiben.
Die Texte waren glaubwürdig, weil sie
nicht im üblichen distanzierten und geschliffenen
journalistischen Stil verfaßt waren. Es gab keine reine
Berichterstattung, sondern jeder Artikel vertrat eine Meinung, hinter
der eine konkrete Person stand. Auch die Fotografen gaben in den
Bildern ihre ungeschminkte alltägliche Sicht auf die Stadt
wieder, Ereignis-, Sensations- oder Spektakelbilder fanden im
scheinschlag keinen Platz. Und selbst der Leerraum am Spaltenende des
Textes signalisierte Ehrlichkeit, war doch offensichtlich genau soviel
geschrieben worden, wie es das Thema verlangte wie auch die
unvermeidlichen Fehler in den Ausgaben im besten Fall von
Unmittelbarkeit und Authentizität zeugten, bewiesen sie doch,
daß man am zeitlichen Limit gearbeitet hatte. Im Grunde waren
die Mitarbeiter in der Anfangszeit sowieso ständig an allen
Fronten im Einsatz. Wer beispielsweise mit dem Auto in der Stadt
unterwegs war, hatte immer einen Stapel Zeitungen auf dem
Rücksitz, um nachlegen zu können und vielleicht noch
Ausschau nach neuen Auslegestellen oder auch Anzeigenkunden zu halten.
scheinschlag wurde mit den Auseinandersetzungen
und Konflikten, die die Veränderungen in der Stadt brachten,
größer und erarbeitete sich einen Ruf. Immer wieder
haben einzelne Personen seine Inhalte und seine Arbeitsstrukturen
geprägt, dabei Standards gesetzt, die sich über die
Jahre hinweg als tragfähig erwiesen, gerade weil sie so offen
angelegt waren, daß jede neue
scheinschlag-„Generation" sie als Richtschnur
übernehmen konnte und so die Fortexistenz der
Zeitung gesichert werden konnte.
Was vielleicht wie ein glücklicher
Augenblick der Geschichte aussieht, ist aber ohne den erhöhten
Kraftaufwand von seiten der Mitwirkenden nicht denkbar gewesen. Und der
Verschleiß war in allen Bereichen immens, verfolgt man die
lange Liste der wechselnden Mitarbeiter, die im Impressum
aufgeführt wurden. Selbstausbeutung forderte ihren Tribut.
Eine minimale finanzielle Anerkennung gab es später nur
für die unattraktiven, aber dennoch wichtigen Routinearbeiten,
die Anderen mußten sich mit Ruhm und Ehre begnügen.
Im Rückblick hat sich scheinschlag in
zwei Bereichen, die aktuell heftig diskutiert werden, in einer
Vorreiterrolle befunden, die vor 17 Jahren kaum absehbar war. Zum einen
spielen die Gratiszeitungen am Zeitungsmarkt inzwischen eine wichtige
Rolle, die europaweit einen regelrechten Boom erleben. Gemeint sind
hier nicht die in die Briefkästen gesteckten reinen
Anzeigenblättchen, sondern Publikationen mit einem
redaktionellen Teil. Noch vor sechs, sieben Jahren hatten
große deutschen Zeitungsverlage sich per Gericht gegen die
unliebsame Konkurrenz gewehrt, doch 2003 entschied der
Bundesgerichtshof, daß Gratiszeitungen wettbewerbsrechtlich
unbedenklich und daher im Sinne der Pressefreiheit erlaubt sind. Das
Umdenken der Verlage ist nicht zuletzt den rapide sinkenden Auflagen
der Kaufzeitungen geschuldet. Mit den Gratiszeitungen erreichen sie vor
allem wieder die jungen Leser, die sich an kostenlose Informationen aus
dem Internet gewöhnt haben. Bislang ist dort aber das
Anzeigenaufkommen eher mager, noch werben die Kunden lieber im
traditionellen Printbereich.
Zum anderen wird dem Bürgerjournalismus
eine wachsende Bedeutung beigemessen, angesichts der Unzufriedenheit
mit den etablierten Medien, von denen bestimmte Nachrichten nicht
beachtet werden. Der etablierte Journalismus wehrt sich noch gegen die
Konkurrenz. Relevante Inhalte generieren, strukturieren, aufbereiten
und die Debatten in den verschiedenen Lebensbereichen moderieren, das
sei ein kompliziertes Handwerk, welches nur von talentierten und gut
ausgebildeten Journalisten erledigt werden könne,
verkündete kürzlich Helmut Heinen, der
Präsident des Bundesverbands deutscher Zeitungsverleger. In
vielen privaten Blogs im Internet ist man da schon weiter. Themen
werden subjektiv, meinungsstark und kompetent aufgegriffen und in der
Folge Diskussionen angestoßen. Viele Zeitungen versuchen
jetzt auf den Zug aufzuspringen, indem sie ihrem Onlineauftritt diverse
Blogs aufpfropfen, mit mäßigem Erfolg. Unbestreitbar
ist allerdings, daß das Internet in dieser Hinsicht
hauptsächlich von einer sogenannten Infoelite genutzt wird.
Eine kostenlos in der Stadt verteilte Zeitung kann dagegen immer noch
alle erreichen.
„Seit über 15 Jahren schnappe
ich mir den scheinschlag, wo ich ihn erwische, und war nun traurig, als
ich die Nachricht von der Einstellung las. Ich wäre immer
bereit gewesen, ihn auch zu kaufen und mache mir nun einige
Vorwürfe, ihn nie abonniert zu haben. Aber irgendwie war
dieses Entdecken an bestimmten Orten im Kiez (und immer wieder fand ich
ihn an neuen Orten, egal, wie sich mein Lebensumfeld und mein
Lebensinhalt änderte) auch das, was für mich den
scheinschlag ausgemacht hat. Als wären die euphorischen
frühen neunziger Jahre mit ihren enormen
Möglichkeiten im scheinschlag und seiner
ungewöhnlichen Beschaffungsmethode erhalten geblieben." (Aus
dem Leserbrief von Andrea Rudorff, der uns neben anderen zum Abschied
erreichte.)
Sabine Schuster
Illustration: anschlaege.de
