Willkommen in Bobocity
Wie „Bobos" auf der Suche nach
Ursprünglichkeit und Authenzität diese unweigerlich
zerstören
Foto: Knut Hildebrandt
Manchmal ist die Sprache zu träge, um mit
dem gesellschaftlichen Tempo mitzuhalten. So hat sich bisher keine
geeignete Bezeichnung gefunden, um die urbane Plage zu
charakterisieren, die sich in Berlins Ostzentrum seit anderthalb
Jahrzehnten breitmacht. Mit dem oft verwendeten Anglizismus
„Gentrifizierung" wird Wohnungseigentümern rund um
den Wasserturm und den Arkonaplatz allzu viel Ehre erteilt. Sie haben
wohl mit Gentry, sprich Kleinadel, nichts gemein. Auch trifft
„Yuppie" nur bedingt zu. Nicht alle sind jung und
freiberuflich tätig. Das populäre Schimpfwort
„Schwaben" ist schon ausdruckskräftiger, doch allzu
geographisch begrenzt. Und weitere Modeschöpfungen helfen auch
nicht weiter. Wie alle Blasen der Schröder-Ära ist
die „neue Mitte" schon lange geplatzt, während die
mancherorts gepriesene „neue Bürgerlichkeit" eine
Wiederherstellung alter Zustände andeutet, die es nicht gibt
und geben kann.
Leider hat sich hierzulande die von mir bevorzugte
Bezeichnung „Bobo" bzw. „Boboisierung" noch nicht
durchgesetzt. Zwar ist Bobo auch ein Fremdwort, doch immerhin die
abgekürzte Zusammensetzung zweier im teutschen Sprachraum
allgemein verständlicher Vokabeln, nämlich Bourgeois
und Boheme. Allerdings paßt die französische
Herkunft zu dem bezeichneten Gegenstand ganz gut. Wenngleich der Bobo
vorzüglich in überteuerten Trattorias und Enotecas
speist, haust er am liebsten in Wohnensembles mit „Pariser
Flair", was wiederum zeigt, daß er von den miesen
Wohnverhältnissen in Paris keine Ahnung hat.
Eigentlich stammt der Bobobegriff aus der
Marketingforschung. So wird eine Zielgruppe genannt, die stets zwischen
teuren Modemarken und Subkultur, Zeichen der Exklusivität und
der Szenenzugehörigkeit pendelt. Und genau darum geht es bei
den hegemonialen Zentrumsbewohnern: um einen Lifestyle- und
Konsumtypus. Ansonsten kennzeichnet der Begriff keine spezifische
Beschäftigungsbranche und nicht einmal eine Einkommensklasse.
Der Bobo ist gleichgültig Notar, Medienunternehmer,
Immobilienmakler, Zuhälter oder Professor, gelegentlich auch
ein einkommensloser Nichtstuer, der sich eine potente Partnerin
ergattert hat oder umgekehrt. Meistens ist er Erbe. Und wohlwissend,
daß die Wirtschaftskurve, die seine Mittelstandseltern nach
oben trieb, nun abflaut, hat er das geerbte Vermögen wie einen
Anker in dem ungewissen Fluß seines Werdegangs auf
Wohneigentum gesetzt.
„Für
ein Stadtviertel ist ein
Boboschwarm so verheerend wie für exotische Länder
ein Touristeneinfall"
Das mag sich nach Bürgerglück
anhören, macht jedoch aus dem Bobo längst keinen
Bourgeois im eigentlichen Sinne. Nicht das Geld arbeitet für
ihn, sondern er für das Geld und zwar nicht wenig.
Zudem verlangt sein Job Glaubwürdigkeit und Trendkenntnisse.
Darum versucht er die Lücke, die ihn vom effektiven Reichtum
trennt, mit einem ästhetischen Alibi zu vertuschen. Der wahre
Luxus ist ihm nicht zugänglich, dafür schwimmt er in
der von der ganzen Republik beneideten Hauptstadtkultur. Freilich hat
er selten die Gelegenheit, Clubnächte selber auszuleben. Aber
für sein symbolisches Kapital reicht schon das
Gefühl, irgendwie dazuzugehören. Seinen provinziellen
Verwandten gegenüber schwärmt er von seinem
„Kiez". Das Kiezleben genießt er sehr, insbesondere
seitdem der letzte Ureinwohner in ein fernes Altersheim relegiert wurde
und eine Afterwork-Sushibar die letzte Eckkneipe ersetzt hat.
Für ein Stadtviertel ist ein Boboschwarm so verheerend wie
für exotische Länder ein Touristeneinfall. Beide
begeben sich dorthin, wo sie Ursprünglichkeit und
Authentizität spüren, jedoch zerstören sie
diese unverzüglich mit ihrem bloßen Ankommen.
Die Straßenzüge der Boboviertel
muten wie eine frisch gestrichene Filmkulisse an. Sie sind
„repräsentativ" und sorgen für das
erforderliche „Image", doch hinter den bunten Fassaden ist
das Boboleben grau. Jeder ist dazu verdammt, in einem rekonstruierten
Dekor die Versöhnung des Bourgeois und des Bohemiens zu
schauspielern. So zum Beispiel auf dem Bobomarkt, wo man jeden Samstag
Dorf spielt und vom Biohändler vertraute Tratschimitate gegen
einen entsprechenden Preiszuschlag zuzüglich des
Gemüses erhält. Bezeichnend für seinen
Identitätsersatz ist der Trank, den der Bobo in
Heiner-Müller-Outfit an Straßenterrassen
vorzüglich schlürft: leicht braungefärbter,
lauwarmer Schaum zu unverschämtem Preis.
Selbstverständlich ist der Bobo
vorwiegend Grünen-Wähler und ein Befürworter
jener offenen, multikulturellen Gesellschaft, von der er sich im realen
Leben sorgfältig abschirmt. So schmückt er die
kleinkarierte Ichbezogenheit, die er irrtümlich für
Individualismus hält, mit einem Hauch sozialer Betroffenheit.
Gelegentlich engagiert er sich gar persönlich für
hochwürdige politische Ziele wie die Einführung von
Zebrastreifen vor Kinderspielplätzen.
Überhaupt die Kinder:
Statusträger und „Lebensprojekt" zugleich, werden
sie, zumindest nach Dienstschluß des Kindermädchens,
wie gerettete Trophäen aus dem geschädigten Leben
demonstrativ herumgeschleppt. „Ich las, daß
irgendwelche Australneger, wenn sie den Elegant spielen, kokett
zwischen zwei Fingern den Penis vor sich hertragen. Ähnlich
kokettieren jetzt die Weiber mit ihren Schwangerschaften." Diese
Bemerkung stammt nicht von einem Ethnologen, der sich auf den
Kollwitzplatz verirrt hätte, sondern aus den
Tagebüchern Viktor Klemperers anno 1942. Der Unterschied zu
damals ist jetzt, daß der schwangere Bauch nicht
„wie ein Parteiknopf", sondern wie eine Golden Mastercard
getragen wird. Bei der Kindererziehung treffen sich alternatives
Gedankengut und elitäres Standesbewußtsein
kongenial. Man will ja die Kleinen nicht mit Assis und konservativen
Lehrern in gemeinen Schulen mischen. In leistungsstarken,
antiautoritären Privatblasen werden ihnen die Tugenden der
sozialen Homogenität und der Konfliktvermeidung gelehrt.
Grundsätzlich tut der Bobo alles, um sich
vom Spießertum abzugrenzen. Dabei wirkt er so konventionell,
lächerlich und platt wie der Spießer von einst. Im
Unterschied zur verschollenen bourgeoisen Epoche stehen ihm aber keine
Bohemiens gegenüber, die ihn lustvoll provozieren, sondern
„Prekäre", die ihn beneiden und hofieren. So darf er
sich einbilden, daß im Grunde alle Bobos seien,
bloß mit unterschiedlicher Kaufkraft.
„In
Berlin leben Prekäre und
Bobos in einem ähnlich symbiotischen Verhältnis wie
in Frankfurt Koksdealer und
Börsenmakler"
Auch das Wort „prekär"
entstammt französischer Provenienz, es bedeutet dort soviel
wie „unsicher", „ungewiß" bzw.
„ungeschützt". In diesem Sinne konnte die
französische Arbeitgeberpräsidentin Parisot
scheinarglos fragen: „Prekär sind das Leben, die
Gesundheit und die Liebe, wieso sollte die Arbeit davon ausgenommen
werden?" Leider besitzt das deutsche Adjektiv eigene
Nebentöne, die das Signifikat ziemlich durcheinander bringen.
Für „prekär" weist mein
Synonymwörterbuch auf Bedeutungen wie
„anstößig", „unglaublich" oder
„blöd" eine eher schlechte Voraussetzung
für die Definition des neuen emanzipatorischen Subjekts.
Soziologisch gesehen sollten all diejenigen zum
Prekariat gehören, die keine feste Stelle haben. Doch
ähnlich wie beim alten Proletariat ist alles eine Frage des
richtigen Bewußtseins. Unwahrscheinlich ist, daß
der Gelegenheitsklempner aus Marzahn sich zum Teil des Prekariats
erklärt. Und tatsächlich gehört er nicht
dazu. Denn es reicht nicht, keinen unbefristeten Arbeitsvertrag zu
haben, man muß auch noch die Umgebung mit seiner
Kreativität belästigen. Prekäre (sie nennen
sich auch gern „digitale Boheme", „Generation
Praktikum", oder „urbane Penner") sind mit
Hochschulabschluß, innovativem Potential und marktkompatiblen
Kompetenzen ausgestattet. Sie sind die tüchtigen Kopfwerker in
Mode, Design, Unterhaltung, Kunst, postmaterieller Dienerschaft und
Touristenattraktionen. Insofern prägen sie das Stadtbild und
steigern das Bruttosozialprodukt. Sie scheinen gar stolz darauf zu
sein. Nur hätten sie es gern einen Tick mehr Bourgeois und
weniger Boheme. Laut bedauern sie, unterbewertet und unterbezahlt zu
sein. Das Leben wäre ja so schön, wenn ihnen nur eine
Subvention oder besser ein Existenzgeld gewährt würde.
In Berlin leben Prekäre und Bobos in
einem ähnlich symbiotischen Verhältnis wie in
Frankfurt Koksdealer und Börsenmakler. Alle lungern in den
gleichen
Lounges herum. Doch wo sich da der Bobo betont entspannt gibt, klimpert
der Prekäre wie der Berserker auf seinen Laptop- und
Handytastaturen herum. Die ganze Welt muß ja erfahren, wie
wichtig und dringend seine Projekte sind. Wer, wenn nicht der Bobo am
Nebentisch, würde schon seine symbolischen Artefakte kaufen?
Als einmal Arbeitslose, die nichts dergleichen
anzubieten haben, jeden Montag eigenfüßig auf die
Straße gingen, rümpften Prekäre wie Bobos
die Nase: Der Protest war derart unartikuliert und überaus
unkreativ! Da lief die niveaulose Unterschicht, die sich gar
unverschämt als „das Volk" behauptete. Um die
soziale Trennungslinie zu sichern, veranstalteten dann die
Prekären eine eigene Bewegung, die nun ihre Interessen bunt
und spaßig vertritt. Nur muß sie noch nach eigener
Aussage „mit Inhalten gefüllt" werden.
Guillaume Paoli