Ausgabe 06 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag

 

Der Onkel ist dann nach Amerika

Der Onkel sei dann nach Amerika. Dort habe er die Beute verzehnfacht. Der habe für sowas ein Händchen gehabt, der Onkel.

Der Onkel war eigentlich Schneider, das hatte er gelernt. Schneider beim Hosenmann. Als die Fabrik vom Hosenmann zumachte, ging der Onkel in die Bank, als Laufbursche. Der hieß tatsächlich Hosenmann, Mantelschneider Hosenmann.

Der Onkel trug die Säckchen mit dem Geld vom Devisenzimmer zum Zählzimmer, vom Zählzimmer zur Kasse, von der Kasse die Steinstiegen runter in den Tresor. Wieder hoch in den Hof zu den Geldlastwagen.

Er schaute den Schalterbeamten bei der Arbeit zu, und weil er sowieso andauernd Ärmelschoner trug, selbst genäht, fiel es keinem auf, als er irgendwann hinter dem Tresen stand, Einzahlungen entgegennahm und Blockbuchstaben in die Kästchen auf den Überweisungsformularen drückte. Nach Bankschluß rieb er Geldpapier zwischen den Fingern und summte sich von einer runden Zahl zur nächsten. Sein kleines Gehalt investierte der Onkel in eine kleine Münzsammlung, in ein kleines Häuschen und in eine kleine Tante.

Dem Neffen schenkte der Onkel ein Münzenalbum, rotes Kunstleder, und ein silbernes Zehnmarkstück (München 1972). Der Neffe hatte sich kein Zehnmarkstück gewünscht, jedenfalls keines, das man nicht ausgeben durfte. Der Onkel schenkte dem Neffen zu jedem Geburtstag eine Münze, die der nicht ausgeben durfte. München '72, Innsbruck '76. In der Verwandtschaft hieß es jetzt: „Der Junge sammelt Münzen."

Die Großeltern steckten Gedenkfünfmarkstücke in das Album, Kopernikus (500. Geburtstag '73), Kant (250. Todestag '74), Ebert (50. Todestag '75). Der Onkel verteidigte sein Schenkgebiet Olympische Spiele: 100 Schilling mit Berg-Isel-Schanze drauf.

Dann machte der Russe dem Onkel einen Strich durch die Rechnung. Er schickte seine Panzer nach Afghanistan. Die gedenkmünzenrelevanten Währungen fuhren nicht zu den Spielen in Moskau. Moskau 1980 fand nicht statt im richtigen Geld. Der Neffe war dem Russen dankbar. Der Onkel kassierte den nächsten Schlag.

Vor der Mittagspause sagte der Chef zum Onkel: „Kommen Sie doch nach der Mittagspause bitte mal zu mir." Das war ein schöner Spannungsbogen über das Mittagessen hinweg. Nach der Pause klopfte der Onkel am Büro vom Chef. Die Sekretärin sagte: „Gehen Sie hinein."

Auf dem Tisch vom Chef stand eine Apparatur. Der Chef legte einen Geldscheinstapel hinein, und die Maschine machte flappflappflapp. Scheine, für die die zärtlichen Finger des Onkels eine halbe Stunde gebraucht hätten, zählte die Maschine mit frechem Flattern binnen Sekunden.

Der Onkel wurde schwermütig und antriebslos. Er fuhr zur Kur, kam antriebslos zurück. Blieb krankgeschrieben und verließ das Bett nicht mehr. Freudlos blätterte er in der numismatischen Fachpresse, zeichnete den Wertzuwachs von Schiller (150. Todestag '55) auf Millimeterpapier, und am Samstagnachmittag tunkte er mit trübem Blick Münzen in das Silbertauchbad.

Doch der Chef war kein Unmensch. Er ernannte den Onkel zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Numismatik. Der Onkel taxierte den Wert von Sammlungen und Einzelstücken, er kaufte und verkaufte Münzen. Energien, wie er jetzt sagte. Denn während seiner Depression war er, beeinflußt von der Tante, einer relativ erfolgreichen freiberuflichen Aura-Fotografin, unter bestimmte Esoteriker geraten, die Geld als Energie auffaßten und jeden Handel als die höchste Form der Kommunikation.

Der Handel mit Geld vollzog sich demzufolge auf einer besonders hoch entwickelten Stufe menschlichen Seins. Reine Energie-Kommunikation. Eine These, die die Tante mit eindeutigen Fotografien der Onkel-Aura unterstützen konnte. Ein geschlossener Strahlenkranz rund um den Onkel herum und insbesondere das deutlich sichtbare dunkelblaue Wurzelchakra belegten die spirituelle Überlegenheit des Onkels.

Und tatsächlich: Er war die Schwermut los. Sie wich einem nervösen Reißen, unter dem der Onkel bis zu seinem schlimmen Ende leiden sollte. Wenn das Reißen über ihn kam, schob er das Kinn nach vorn, drehte den Kopf zur Seite, spannte die Muskelstränge von den Kiefern bis zum Schlüsselbein, öffnete die Lippen einen Spalt breit und schnappte nach Luft. So behielt der Neffe den Onkel im Gedächtnis.

Über die Jahre erreichten den Neffen nacheinander drei Nachrichten:

1. Onkel Bankdirektor in Dresden

2. Onkel auf der Flucht

3. Onkel tot, Tante reich

1. Dresden

1989: Stellvertretender Leiter Abteilung Numismatik, weiter konnte ein gelernter Schneider es nicht bringen. 1990: Ein stellvertretender Leiter Abteilung Numismatik stieg in den Zug. In Dresden stieg ein Interims-Direktor Aufbau Ost wieder aus.

2. Flucht

Interims-Direktor Aufbau Ost war kein Posten auf Dauer. Nach dem Aufbau, nach der wilden Pionierzeit würden die Jüngeren kommen, die Gelernten. Das Beste, was den Onkel dann erwartete, war eine frühe Pensionierung. Der Onkel sorgte vor. Nach zwei Jahren verließ ein Interims-Direktor Dresden. In Las Vegas landete ein Millionär. Viereinhalb Millionen Mark, nach und nach in kleinen Tranchen abgezweigt. Adé kleines Häuschen, adé kleine Tante, Reichtum hallo!

Der Onkel mietete ein Zimmer im Nevada Jailhouse Theme Park Hotel.

Als alles schon lange vorbei war, fuhr der Neffe einmal hin und schaute sich das Hotel an, auch das Zimmer des Onkels. Sie hatten es längst renoviert, natürlich, und die ganze Etage gestrichen. 400 Einzelzimmer, die billigen mit Bad, die teuren mit Gemeinschaftswaschraum am Ende des Flurs. Da wurde man vom Wärter hingebracht. Wecken früh um fünf, Einschluß abends um zehn. Die Zimmer bezahlte man voraus und bar.

Die Frühstückswärterin erinnerte sich gut an den Deutschen mit dem nervösen Reißen. Auch der Herr an der Kasinokasse. Er verfluchte den Typen, der den ganzen Betrieb aufgehalten hatte. Wenn der Jetons gekauft habe, habe er immer, immer wieder seine Fingerspitzen durch die Dollarbündel streichen lassen. „I mean, he really was kind of STIMULATING them. Die Leute in der Schlange standen sich die Beine in den Hals, but he was kind of preparing himself for some odd sort of INTERCOURSE." Und diese Furchen am Hals. Dicke Muskelwülste, dazwischen diese tiefen Furchen.

Der Onkel verdoppelte die viereinhalb Millionen. „He WANTED to lose", sagte der Herr an der Kasse. „He came here to fail. Wer so spielt, der will verlieren. Aber dann, dann hat er einfach aufgehört. Hat einfach nicht mehr gesetzt. You know, erst auf volles Risiko, er gewinnt und gewinnt, er steht praktisch draußen auf dem Fenstersims, dreht Pirouetten, freihändig, stundenlang. Und auf einmal klettert er wieder rein!"

Der Waschraumwärter sagte, der Onkel habe am letzten Abend einen bodenlangen Mantel getragen, aus Geldscheinen. Mit einer Schleppe aus 100-Dollar-Noten und einem dicken Kragen aus Geldscheinfransenpelz. Nach dem Einschluß habe er in der Zelle gesessen und die Stapel gezählt, immer und immer wieder.

Wie es nun genau zu dem Feuer gekommen war, ließ sich nicht mehr feststellen. Die Tante sagte, es sei wegen der Reibung gewesen. Der Onkel habe das Geld so heißgezählt, daß es sich entzündet habe. Der Onkel lag dann auf dem Zellenboden. Schwarz, klein, trokken. Den Kopf zur Seite, Kinn nach oben, Mund ein Spalt.

3. Tante reich

Die Tante verklagte das Hotel. Jailhouse hin oder her, die Zimmer müßten von innen zu öffnen sein. Die Entschädigung bestand aus:

a) einer Entschädigung für den ver-
brannten Roulettegewinn

b) einer Entschädigung für den ver-
brannten Onkel, weil der Onkel jetzt
tot war,

c) einer Entschädigung für den verbrannten Onkel, weil der Onkel so grausam verbrannt war, sowie

d) einer Entschädigung für die besondere psychische Belastung der Tante durch die im Prozeß verhandelten medizinischen, biochemischen und krematologischen Details.

So habe der Onkel das Geld am Ende verzehnfacht: 45 Millionen Mark. Die Tante habe damit ein Chalet für ganzheitliche Kommunikation eröffnet. Sie habe aber keine rechte Freude daran. In die telepathischen Sitzungen platze immer wieder der Onkel. Er frage in drängendem Ton, ob sie das gewußt habe, wie das alles ausgehen würde. Mit „das alles" meine der Onkel sein Leben. Diese Frage sei ihr peinlich vor den Kunden, sage die Tante, aber auch vor den Mitarbeitern.

Bov Bjerg

Bov Bjerg schrieb von Juli 1992 bis März 2002 (im Wechsel mit Hans Duschke) die Kolumne „Nachgefragt". 

 
 
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