Die bessere Welt
Redlich trunken auf Neuköllner
Alzheimerprophylaxe
Foto: Bernd Potschka
Der scheinschlag hat oft und
ausgiebig über die Berliner Eckkneipen, die Prollstampen,
berichtet und bejammerte immer wieder den Niedergang dieser
für das Berlin der Vergangenheit so typischen
Kultureinrichtungen in Prenzlauer Berg, in Mitte, Kreuzberg,
anderswo. Endlich Zeit, davon zu berichten, was scheinschlag, seine
Redakteure, seine Autoren, als das Kneipen-Dorado ansehen:
Neukölln, noch hinterm S-Bahn-Ring. Die
Silbersteinstraße, Flaniermeile des redlichen Trinkers. Die
bessere Welt. Oder anders gesagt, eine Welt, wo Ideen für eine
bessere Welt geboren werden. Oder so.
Mit ausgewiesenen Kennern des Metiers
Herrn Stirner, Herrn Witte, Herrn Jansen und Fräulein Sax
begab ich mich also kürzlich auf Tour, vom S- und
U-Bahnhof Neukölln aus die Silbersteinstraße entlang.
An der Ecke Walterstraße das erste
Lokal: „Der gemütliche Oldie- und Countrytreff
‚Zur Ecke'", schmuddelig, vollgestellt und -gehängt
mit jedwedem Country-Firlefanz und zugekleistert mit albernen
Kneipensprüchen, gut gefüllt mit noch nicht ganz
abgefüllten Gästen. Ein schöner Ort. Die
kleine Flasche Schultheiss kostet 1,10 Euro, auf der
Getränkekarte sind aber auch die wahren Stimmungsmacher
ausgewiesen: Eine Dreiviertelliterflasche Hm-Korn bzw. Hm-Weinbrand
gibt's für 15 Euro. Wegen der in einem Countrytreff
unvermeidlichen Hintergrundgeräusche kam es zu einem
unvermeidlichen, gleichwohl wenig fundierten Disput über
Gunter Gabriel, Truck Stop und Boss Hoss. Herr Jansen sang mit.
Im „Tanzlokal Silbereck" an der
Bendastraße fiel sofort die merkwürdige Mischung des
Publikums auf; nicht nur dickleibige Gewohnheitstrinker tummelten sich
dort, da gab's auch junge, gelangweilte, mit entsprechenden Frisuren
versehene Mädchen, einen als Klofrau eingesetzten, gleichwohl
völlig zugedröhnten Plüschelefanten, einen
DJ, der die schlechtesten Hits der 80er Jahre zu Gehör
brachte. Am Nachbartisch radebrechte man über anderes,
darüber, daß Bier gesund sei, natürlich,
daß der Genuß dieses köstlichen Safts
Alzheimer verhindere wissenschaftlich erwiesen.
Das „Neuköllner Gasthaus" an
der Ecke Hermannstraße war eine Enttäuschung, eine
Globalisierungs-Eckkneipe: Hinter dem Tresen stand eine als
Sonnenstudiobesitzerin geborene Mittvierzigerin; der Laden schrecklich
sauber, überstrahlt von einer furchterregenden Neonreklame
für das weltlangweiligste, von skrupellosen Bierdesignern
zusammengemixte, praktisch geschmacklose Heineken. (Ein
Schultheiß schmeckt zwar scheiße, es schmeckt aber
wenigstens nach irgendwas.) Nicht nur die Einrichtung u.a.
ein sauberst gemauerter Tresen mit Holzsöllerchen, die sich
als exotische Un-, gleichwohl biedere Kuscheltiere gerieren
warf die Frage auf, ob das uns kredenzte und als Kindl deklarierte Bier
nicht vielleicht doch von Ikea gebraut wurde. Die Frechheit,
daß uns ausgemachten Henkeltrinkern ungefragt Kugeln vor die
Nasen gestellt wurden, quittierten wir mit einem lauthalsen Sermon
über das ödeste Spiel der letzten
Fußball-WM zwischen der Ukraine und der Schweiz. Sinnlos
in einer Sonnenstudiokneipe versteht man weder etwas von
Fußball noch von ironischer Kritik. Herr Stirner sagte:
„Schlimm!"
Aber nur ein paar Schritte weiter, auf der anderen
Straßenseite, ward wieder Licht: in der Kneipe „Zu
den 3 Stufen". Davor saßen zwei Herren und eine Dame, drinnen
schummerte ein verwaister Tresen vor sich hin. Getreu der Devise,
daß man, um eine Kneipe wirklich kennenzulernen, in ihr
Inneres vordringen muß, wagten wir uns in die Dunkelheit. Die
Dame kam uns nach.
„Welches Bier habt ihr hier?"
„Warsteiner oder Waidbauer."
„Waidbauer? Ist das aus Bayern?"
„Nee, das ist aus Deutschland ... nicht
aus Bayern."
„Na dann. Fünf davon!"
Die folgende Diskussion drehte sich um Biere aus
Italien, Spanien, der Türkei. Fräulein Sax
erzählte von rebellischen türkischen Jugendlichen,
die ganz ohne Alkohol auskämen. Stellte sich die Frage: Ist
Subversion ohne Alkohol denkbar? Eine Antwort ließ sich nicht
finden wir mußten weiter.
In die „Silberquelle", wo das Bier auch
nur 1,30 Euro kostet. Wo immerdar fünf Tresenverwalter sitzen,
einer mit T-Shirt „Zur Serienproduktion nicht freigegeben".
Wo ein Kubaner die Flasche Schultheiß rüberreicht.
Und wo man noch immer trauert, weil ein Stammgast vor zwei Jahren
umgebracht wurde. Nachzulesen in der aushängenden BZ von
damals („weil er ein zu großes Herz hatte").
Nachher mußten wir feststellen,
daß wir nichts wissen: von Neukölln, von der
hiesigen Trinkkultur, den Sitten der Eingeborenen. Natürlich
geht der Neuköllner Trinker seinem Tagwerk am Tag nach, und
irgendwann ist dann auch Feierabend das
„Pils-Stübchen" und „Kalli & Co."
hatten schon zu.
Wir liefen zurück, besuchten nochmal die
„Silberquelle" und das formidable „Zu den 3
Stufen", landeten schließlich im „Achhajee" auf der
Hermannstraße. Handelten dort noch schnell die Themen
Anarchismus, Taoismus, Chavismus, Anästhesismus und
Klosprüche ab und versuchten uns an der Vertonung des
Marxschen Kapital als Rap. Wir sangen fünfstimmig. Und waren
selig Schultheiß-trunken, auf redliche neuköllsche
Art und Weise wackelig. Herr Jansen brauchte hernach Erste Hilfe,
Fräulein Sax mimte die Krankenschwester. Wir torkelten aus der
Kneipe, über die S-Bahnbrücke, in die schlechtere
Welt.
Komischerweise steht auf einem meiner
während der Tour vollgekrakelten Zettel noch:
„Schmatzend bekundete er sein Wohlgefallen an den
Hervorbringungen von Mutters Küche." Hm.
Jörn Luther