Asbestalarm!
Wie die Stadt zum Hasenbrot wurde
„Berlin
braucht eine Gründerzeit mit Markanz und Brutalität."
Hanno Klein, Referatsleiter und Investorenbetreuer in der
Senatsbauverwaltung, 1991
Touristenschiffe schaukeln über die
Spree, vorbei am Kanzleramt, Regierungsviertel, Hauptbahnhof mit halbem
Dach. In Höhe des Marx-Engels-Forums bestaunen die
Berlin-Besucher eine halb demontierte Ruine. Doch kaum einer der sonst
so routiniert dozierenden Stadtbilderklärer verliert ein Wort
über sie. Vielleicht, weil es zu kompliziert ist zu
erklären, was hier vor sich geht. Warum in Berlin ein erst 30
Jahre altes Gebäude abgerissen wird, das weltweit als Symbol
deutscher Geschichte galt und zuletzt als der aufregendste Kulturort
der Stadt gefeiert worden war.
Es war wie selbstverständlich das
Ostberliner Zentrum zwischen Alexanderplatz und Schloßplatz,
das sich die Demonstranten im Herbst 1989 nahmen. Der Palast der
Republik, von den Ostlern bis dato bespöttelt wie genutzt,
wurde plötzlich zum hochpolitischen Ort: Wo sich noch zum 40.
Jahrestag der DDR die Apparatschiks abgeschottet hatten, zogen am 4.
November 500000 Demonstranten vorbei, hier stellten sie ihre
Transparente aus. Am Tag der ersten freien Volkskammerwahl
drängelten sich Hunderte internationaler Kamerateams im Foyer.
Hier beschloß die Volkskammer den Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik um das Gebäude anschließend
fluchtartig zu verlassen: Asbestalarm! Die neue Berliner
Gründerzeit begann.
Noch tummelten sich auf dem Potsdamer Platz die
Hasen und wurde auf dem Polenmarkt im einstigen Niemandsland
getrödelt, da war das Areal schon für ein Hasenbrot
verscherbelt. Politiker und Investoren kriegten vor Aufregung rote
Köpfe: Hauptstadtbeschluß! Regierungsumzug!
Ost-West-Drehscheibe! Olympia 2000! Und all die schönen
Grundstücke, die plötzlich von der Rand- zur 1a-Lage
geworden waren. Die Wachstumseuphorien nahmen fast wahnhafte
Züge an: Man phantasierte von fünf Millionen
Einwohnern und Hunderttausenden zusätzlicher Quadratmeter
Büro- und Handelsflächen, die benötigt
würden für all die großen Konzerne, die nun
nach Berlin kämen. Besondere Fürsorge galt dabei dem
Ostteil der Stadt „Pionierland", das jede Menge
Potential bot: als Immobilien-, Absatz-, Privatisierungs- und
Arbeitsmarkt.
Chefplaner im Buddelkasten
Feuchte Investorenträume und die
Metropolen- Ambitionen des überforderten Senats (nicht wenige
Koryphäen waren diskret von der westdeutschen Provinz in der
ungeliebten neuen Hauptstadt entsorgt worden) ergaben eine fatale
Allianz: Nicht nur, daß die Stadt Anfang der Neunziger eine
rasante Deindustrialisierung zu verkraften hatte neben den
Arbeitsplätzen verschwanden vor den Augen der verdutzten
Bewohner plötzlich auch Straßennamen,
Denkmäler, Parks, Gebäude, ganze Industrieareale.
Schneller als man gucken konnte, waren das Lindencorso, das Stadion der
Weltjugend, Checkpoint Charlie, das Außenministerium oder der
alte Zentralviehhof geschreddert. Dafür wurden den Berlinern
unverdrossen immer neue hochfliegende Pläne um die Ohren
gehauen: Regierungsviertel! Hochhausgewitter am Alexanderplatz! Neue
Urbanität am Potsdamer Platz! Historisierende Sofakissen auf
dem Pariser Platz! Die Friedrichstraße wurde in
Nullkommanichts auf Luxuszone getrimmt, derweil Wilhelm von Boddien
seine Schloßfassaden-Phantasien in Plastikfolie auf dem
Schloßplatz zusammenfrickelte direkt vor dem Palast
der Republik, dessen Abriß schon so gut wie beschlossen war.
Zeitweise wirkte die Stadt wie ein überdimensionierter
Buddelkasten, in dem die Chefplaner munter mit Sandburgen
experimentierten.
Doch ging die Gründerzeit nicht nur mit
Brutalität, sondern vor allem mit bemerkenswerter Ignoranz
einher: All die spaßigen Rotunden, Info-Boxen und
„Schaustellen", mit denen die Insassen über den
ihnen bevorstehenden Anstaltsumbau belehrt wurden, all die
hübschen Euphemismen und Superlative (gern schwärmte
man von „Kran-Balletten" und der
„größten Baustelle Europas") konnten kaum
darüber hinwegtäuschen, daß die
Bevölkerung dabei eher als Störfaktor empfunden
wurde. Das Anfang der Neunziger installierte „Stadtforum" als
Ort der öffentlichen Debatte verkam bald zur
Alibiveranstaltung mit Beteiligungstouch fürs
Fußvolk, dafür hohem pädagogischen Wert.
Insbesondere die Ostberliner, die gerade ihre Lust an demokratischer
Teilhabe entdeckt hatten, fanden sich unvermittelt auf den
Bänken einer Klippschule wieder. Gern teilte ihnen
Senatsbaudirektor Stimmann mit, daß sie im Grunde
„abartig" gelebt hatten: all diese Plattenbauten mit
Abstandsgrün, und dazu noch die Datschen.
Mit besonderer Inbrunst widmeten sich die
Hauptstadtcowboys der Ostberliner Moderne. Die klassischen Bauten der
Sechziger und Siebziger, die offenen Plätze und
großzügigen Räume schienen bei ihnen
geradezu Ekel hervorzurufen: Das denkmalgeschützte
„Ahornblatt" des weltweit geschätzten Architekten
Ulrich Müther wurde „kritisch rekonstruiert" (also
trotz aller Proteste abgerissen und durch einen stupiden Riegel
ersetzt); öffentliche Räume, deren Zustopfen etwas
länger dauern konnte, wurden vorsorglich diskreditiert und
verbal zur Abschußreife gebracht: der Alexanderplatz
„zugig", geradezu der „Vorhof der Mongolei", der
Schloßplatz ein „Windkanal" und „Acker
historischer Denkmäler", auf dem „viele die Grenzen
ihrer seelischen Belastbarkeit längst erreicht"
hätten. Insbesondere der Schloßplatz wurde zur
Projektionsfläche der Repräsentationsphantasien:
hochgejazzt zum „Herz der Republik", gar zum
„identitätsstiftenden Ort" für 80 Millionen
Bundesbürger.
Immerhin ging der Stadt nie der
Gesprächsstoff aus: Bauskandale, windige
Grundstücksdeals, Pannen. Der durchschnittliche, von der
öffentlichen Hand errichtete Berliner Neubau kostete in der
Regel das Doppelte des ursprünglich Kalkulierten, wurde Jahre
nach dem eigentlichen Termin fertiggestellt und funktionierte hinterher
irgendwie nicht so richtig. Unterdessen wurde der Palast für
den bevorstehenden Abriß asbestsaniert und bot ein immer
traurigeres Bild. Schräg gegenüber wurde das in den
Siebzigern erbaute Palasthotel geschreddert. Ein Taxifahrer murmelte:
„Dit sieht hier aus wie im Bürgerkrieg."
Außerhalb Berlins erntete man bloß
Kopfschütteln bei dem Versuch, das Geschehen zu
erklären. Im Ausland verstand man sowieso nicht, warum Berlin
so vehement versuchte, sich des Interessantesten zu entledigen, das es
zu bieten hatte: seiner jüngeren Geschichte, seiner
Vielschichtigkeit und Disparatheit.
Daß es um viel mehr als um
bloße Architekturdebatten ging, wurde spätestens bei
der Präsentation des „Planwerks Innenstadt" auf
einem „Stadtforum" Ende 1996 deutlich, die vor so
großem Publikum eigentlich gar nicht vorgesehen war:
Monatelang hatten die Planer im Auftrag des Stadtentwicklungssenators
hinter strikt verschlossenen Türen an einem Masterplan
gebastelt, der die Innenstadt wieder auf den barocken
Grundriß der Vorgründerzeit zurückbeamen
sollte. Und deshalb waren sie nicht eben amüsiert, als die
Vorabveröffentlichung der Pläne durch taz und
scheinschlag eine Menge streitlustiger Bürger auf den Plan
rief. Doch alle verbale Zuckerwatte wie „Identität",
„Urbanität", „historische Rekonstruktion"
oder „Stadtreparatur" konnte nicht verbergen, worum es
wirklich ging: um Deutungsmacht, um die Sehnsucht nach einer
idyllischen, „heilen" Stadt, die sich nicht länger
„stadträumlich im verschlissenen Unterzeug seiner
Teilungsgeschichte darstellt" mithin um das Schmirgeln von
Geschichte. Aber nicht nur die Bauten der Moderne beispielsweise an der
Leipziger Straße waren aus Sicht der Planwerker falsch
die Bewohner waren es offenbar auch. Sie waren auch gar keine
Bürger mehr, sondern lediglich „rechthaberische
Basis", wenn nicht gleich der „Ossi-Zoo". Heiß
herbeigesehnt wurde dagegen der „neue Stadtbürger",
auch „Urbanit" genannt, eine Art Promenadenmischung aus
flanierendem Bourgeois und Häuslebauer.
Kampfansage an die reale Stadt
Das Planwerk war tatsächlich eine
„Kampfansage", wie seine Autoren es intern tituliert hatten:
eine Kampfansage an die reale Stadt. Man muß schon viel
Widerwillen gegen eine Stadt, ihre Geschichte und ihre Bewohner
entwickeln, um mit solchem Gestus nach ihr zu greifen. Doch den
Bilderkampf gegen die Wirklichkeit kann man nur verlieren. Es war ein
fast tragischer Moment, als Senatsbaudirektor Stimmann Ende der 90er
von Demographieexperten vernehmen mußte, daß weit
und breit keine wohlhabenden Urbanitenschwärme in Sicht seien,
sondern vor allem Migranten auf der Suche nach Jobs.
Der Kater nach dem Metropolenrausch war gewaltig.
Die Olympiaträume waren bereits 1993 peinlich geschei-tert,
als Erinnerung blieben riesige städtische Brachen. Der
große Boom fand nicht statt. Ende der Neunziger brach der
Berliner Immobilienmarkt zusammen, der Leerstand von Büros,
Geschäf-ten und Wohnungen war enorm. Die Stadt driftete sozial
auseinander, „aufgewerteten" Wohlstandsinseln standen immer
mehr sogenannte „Problemquartiere" gegenüber. Der
Bankenskandal brachte das ohnehin hochverschuldete Berlin an den Rand
der finanziellen Katastrophe.
Ironie der Geschichte: Als die Stimmung in der
Stadt auf dem Nullpunkt war, erlebte ausgerechnet die
berühmteste Berliner Ruine ein furioses Comeback der
längst totgesagte, bis aufs Betonskelett reduzierte Palast der
Republik. Das war weniger Zufall denn bezeichnend: Eine junge,
pragmatische Generation setzte den nostalgischen
Luftschlössern der Altherrenriege ihre eigene Vorstellung von
Urbanität entgegen und ertrotzte eine kulturelle
Zwischennutzung. Der Palast rockte, die Schlangen vorm Eingang waren
rekordverdächtig. Von New York bis Paris sprach sich die
Attraktion herum, schrieben Zeitungen begeistert über die
temporäre Kunsthalle.
Das hinderte den Senat, der sonst so sehr um
internationales Renommee buhlt, nicht daran, den Abriß zu
exekutieren. Sie planen an diesem Ort jetzt übrigens eine
temporäre Kunsthalle. So lange, bis Wilhelm von Boddien die
seit 15 Jahren versprochenen 80 Millionen Euro Spendengelder
für die Schloßfassade eingesammelt hat (das
könnte allerdings dauern). Einfacher wäre es
natürlich, die alten Attrappen-Planen über die
Palastreste zu hängen, aber pragmatische Kompromisse waren ja
noch nie Berlins Stärke. Immerhin sind kaum noch Klagen
über den jetzt noch zugigeren Schloßplatz zu
vernehmen vielleicht, weil inzwischen nicht nur im Osten ein
rauer Wind weht. Oder weil Aussicht auf ein kuscheliges
Schloßeckchen besteht.
„Würde",
„Hauptstadtwürde" war eine der Lieblingsvokabeln der
Planwerksstrategen. Wenn hier derzeit überhaupt irgendetwas
Würde ausstrahlt, dann sind es die Überreste des
Palastes der Republik. Am Ende hat er mehr geschlossene Jahre im Westen
erlebt als belebte Jahre im Osten, still unendliche ideologiebeheizte
Debatten über sich ergehen lassen und war einfach
ein vielseitig nutzbares Gebäude, das (wenn man das wissen
wollte) viel über deutsch-deutsche Geschichte
erzählen konnte. Zum Abschied ziehen wir den Hut vor einem
Ort, der ursprünglich nicht Heimat war, aber wurde.
Ulrike Steglich