Ausgabe 05 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Das Märchen vom Echolot

Foto: Dirk Hempel/aus dem Begleitbuch

Es war einmal in der schönen Hansestadt Rostock das wackere Ehepaar Kempowski, denen schenkte der Herrgott 1929 einen Knaben, und den nannten sie Walter. Er hatte ein sonniges Gemüt und blickte gar fröhlich in die Welt hinein. Doch dann zerstörten feindliche stählerne Riesenvögel die Stadt, der kleine Walter mußte in eine Strafeinheit der Hitlerjugend und sein Vater wurde von einer Bombe getroffen, so daß nichts von ihm übrigblieb.

Als ich zuletzt bei Walter Kempowski war, im Dörfchen Nartum, gelegen zwischen Zeven und Rotenburg an der Wümme bei Bremen, wirkte der Hausherr milde und bei allem Humor etwas melancholisch.

Als wäre das noch nicht schlimm genug, geriet der Knabe Walter ins Gefängnis und seine gesamte Familie mit ihm, die geliebte Mutter und sein Bruder, und der Junge gab sich die Schuld, Culpa. „Culpa!", schallte es durch die Gefängniszelle, „Schuld!", wie ein Echo, das ewig zu seinem Ausgangspunkt zurückgeworfen wird. Und wie das Echo mit größerer Entfernung nicht leiser, sondern deutlicher wird, so hörte Walter Kempowski es auch immer deutlicher, häufiger und mit größerer Resonanz: „Culpa!"

Schon während seiner Haft in Bautzen hat Kempowski Tagebuch geführt, doch sind diese Aufzeichnungen vernichtet worden. Seit 1956 haben die Privatchroniken überlebt, die er nun nach und nach veröffentlicht. Denn in den beiden großen Komplexen von Echolot und Deutscher Chronik habe er zwar seine Familie, Deutschland und sogar ganz Europa geschildert, aber noch fehle sein Kommentar dazu.

Als wollte er beweisen, daß das aktuelle Zeitgeschehen nicht an ihm vorüberlief, kam er auf die Vereinigung Europas in der Europäischen Union zu sprechen, die im Grunde eine sehr gute Sache sei. Nur drohe sie inzwischen nach Einführung des Euro in Bewegungslosigkeit zu erstarren.

Erst nach vielen schweren Jahren voller Entbehrungen, oft genug nur bei Wasser und Brot, kamen sie alle wieder in Freiheit. Aber es erklang weiter: „Culpa!" Kempowski begann, seine Schuld abzutragen, indem er wunderbare Romane schrieb. Erst einen über die Gefängniszeit, damit diese vielen Jahre einen Sinn hatten, für ihn und all die Knastrologen, mit denen er zusammen gewesen war. Als nächstes baute er Rostock wieder auf und seine Familie, stellte alles auf dem Papier wieder her und erweckte so diejenigen, die tot und vergessen waren, wieder zum Leben, holte sie zurück in die Erinnerung.

Aber obwohl die Leser ihn liebten, den Humor, die Genauigkeit und seine Kunstfertigkeit lobten, war er nicht recht zufrieden, etwas fehlte. Er sammelte Tagebücher von vielen Unbekannten, aber es fehlte immer noch etwas. Noch immer hörte er es rufen: „Culpa!"

Er arbeitete sich durch die schrecklichsten Zeugnisse der Deutschen, durch die blutigsten und schauderhaftesten Unterlagen, die sich Menschen auch nur ersinnen könnten, und er zermarterte sein Hirn Tag und Nacht, wie er diese Schätze, die Vermächtnisse der Toten, für die Nachwelt erhalten könnte. Er kaufte sich einen italienischen Computer, später einen deutschen und schließlich amerikanische mit je einem bunten Apfel darauf. Er tippte alle Tagebücher in die Computer ein, begleitet und unterstützt von seiner lieben Frau Hildegard und einigen Getreuen in seinem Haus Kreienhoop, das er sich zu diesem Zweck errichtet hatte.

Es war aber kein gewöhnliches Haus, sondern ein Echogewölbe, manche nannten es auch Sprachgewölbe. Es war so gebaut, daß das, was an einem Punkt in seinem Innern leise gesprochen wurde oder in einen Computer eingetippt, an bestimmten andern Punkten gehört werden konnte oder sogar gelesen.

Als ich Kempowski zuletzt besuchte, schrieb er an seinem „definitiv letzten" Roman Alles umsonst und hatte bereits fast 200 Seiten vollendet. Denn dem Werk seiner Romane fehle der Schluß-Stein. Noch einmal, wie in Mark und Bein von 1991, ist Ostpreußen das Thema. Aber im Gegensatz zu dieser „Episode", deren Handlung in den späten achtziger Jahren angesiedelt ist, spielt das letzte belletristische Buch des Autors im Jahr 1945.

Noch einmal ging es darin um die Frage der Schuld, ein Überthema in Kempowskis Werk. Unangenehm war ihm, daß durch verstärkte Fernsehberichterstattung der Eindruck entstehen konnte, er springe mit dem Thema des Kriegsendes 1945 auf einen fahrenden Erfolgs-Zug auf, dabei hatte er diese Arbeit schon konzipiert, als noch keinerlei Interesse dafür zu erkennen war. Aber da dieses Thema, dieser Stoff aus inneren Gründen seine ganze „Produktion" abschließe, müsse er das Material unbedingt gestalten.

Inzwischen diktiert Kempowski, schwer krank, seinen wohl wirklich letzten Roman.

Niemand wollte ihm glauben, als er Unterstützung suchte für sein großes Werk, alle hielten es für Wahnsinn. Aber unbeirrt brachte Walter Kempowski das gewaltige Projekt voran und wurde darüber alt und grau. Er gewann den Lektor Bittel von Bertelsmann als Kameraden und gemeinsam, gegen alle Widerstände finsterer Mächte, brachten sie in vielen Jahren Arbeit schließlich in edlem weinroten Leinen und fadengeheftet ein Werk ans Tageslicht, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte: Das Echolot, ein kollektives Tagebuch.

Die Seelen der Toten waren darin auf edlem Papier erlöst, das vielfache Leiden war nicht umsonst gewesen. Zeugnis legten sie ab in einem Kunstwerk, jede Stimme wurde zum Singen gebracht. Wie Diamanten glänzten die Vermächtnisse derer, die gestorben waren, ein jeder war für sich poliert. Aber auch dunkle bedrohliche Kristalle mit bösen Facetten waren darunter, damit es gerecht zuginge in diesem kollektivem Tagebuch und nicht etwa die Deutschen besser schienen als sie waren. Mal folgten die Schicksale wie Perlen auf einer Schnur, dann wieder bauten sie sich auf wie Orgelpfeifen eines genialen Baumeisters, mal lagen sie nebeneinander wie Landkarten eines unheimlichen Kartographen. Seite um Seite enthüllten sich die Lebenswege und fügten sich beim Leser zu einem Bild menschlicher Leidenschaften. So wie die Göttliche Komödie als Negation: die menschliche Tragödie. Und ganz klein darin versteckt war er auch selbst: Walter Kempowski.

Niemand glaubte, ein Mensch könne ein so gewaltiges Werk von zehn dicken Bänden jemals vollenden, doch dann, nach über einem Dutzend Jahren, brachte er es zum Abschluß, und es war insgesamt noch besser als irgend jemand erwartet hatte. Und als der alte Dichter, der er inzwischen geworden war, den zehnten und letzten Band in der Hand hielt, da fehlte wieder etwas. Er überlegte, was es sein konnte, und da hörte er es, oder vielmehr hörte er es nicht. Der Ruf „Culpa!", „Schuld!", er war verstummt. Auch seine eigene Seele hatte ihren Frieden gefunden.

Ich fragte Kempowski zuletzt, ob es eine religiöse Motivation, christliche Gründe dafür gebe, daß er in seinen Büchern „Culpa", die Schuld der Deutschen auf sich nehme. Kempowski kam auf die Erbsünde zu sprechen, nach der die Menschen schon durch ihr Bewußtsein schuldig seien. Doch gehörte Kempowski keiner Kirchenreligion an, stand aber im Sinne der Theologie der christlichen Kirche nahe. Er bete also nicht, beschäftige sich jedoch häufig mit der Bibel, die er schon aus seiner Zuchthaus-Zeit sehr gut kannte, als sie die einzige zugängliche Lektüre war. Damals war er sowohl katholischer als auch evangelischer Kantor und hat dadurch die Kirchenmusik sehr intensiv kennengelernt. Er habe so viele Choräle gesungen, daß er bestimmt in den Himmel komme.

Und bei der Feier zur Vollendung des Werkes im feinsten Haus der deutschen Hauptstadt Berlin, Unter den Linden Nummero 1, da setzte sich sogar der Bundespräsident neben ihn und gratulierte, und alle waren sie da, ihn zu feiern: Seine liebe Frau und der Sohn, der erste Verleger und die talentiertesten Autoren und Redakteure der wichtigsten Zeitungen, und sie alle liebten ihn und sein Werk, das er geschaffen hatte.

Die Vermutung, daß seine Haftzeit in Bautzen in einer an Dostojewski erinnernden Umgebung zum Echolot beigetragen haben muß, dieses gemeinsame „Sitzen" mit SS-Leuten, Kommunisten und normalen Verbrechern, diese Vermutung konnte Kempowski bestätigen. Auf gewisse Weise sei dieses Dekor in seiner Literatur nachgestellt, schon damals sei er „rumgelatscht" und habe die Leute befragt, nur konnte er keine Aufzeichnungen machen.

1991 erschienen die ersten Bände des Echolots, aber als Günter Grass 2002 Im Krebsgang veröffentlichte, glaubten viele, Grass habe sich als erster dem großen Thema der deutschen Heimatvertriebenen gewidmet. Kempowski vermutet finanzielle Gründe dafür, daß Grass' Buch nicht so teuer wie seines gewesen sei. Das Echolot sei nun einmal nicht billig und außerdem sehr dick, man müsse sich hindurchfressen. Und sehr fraglich sei dann immer noch, ob es ein Schlaraffenland ist, was man dabei entdecken kann.

Und da er nicht gestorben ist, lebt er noch heute und schreibt weiter Romane, einer immer feiner als der andere, und auch Tagebücher und sogenannte Zöpfe, aber davon muß woanders erzählt werden, denn beim Happy End wird abjeblendt!

Falko Hennig

„Kempowskis Lebensläufe". Noch bis zum 15. Juli in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Di bis So 11 bis 20 Uhr.

Begleitbuch zur Ausstellung: Dirk Hempel, Kempowskis Lebensläufe. Herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin 2007, 19,90 Euro.

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