Ausgabe 05 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ermutigung zum Anschein, es gäbe keinen Bedarf

Zwei Experten über die Veränderungen in der therapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen

Foto: Knut Hildebrandt

Michaela Holte ist Vorstandsmitglied vom Legasthenie-Zentrum Berlin e.V. und Uwe Spindler der Referent für Öffentlichkeitsarbeit. Sie wirken darauf hin, daß die therapeutische Hilfe für ein Kind nicht vom Wohnbezirk abhängen kann und die Kostensätze für die Zusammenhangsarbeit, also für die Arbeit, die außerhalb des 50-Minuten-Kontakts mit dem Kindern anfallen, nicht unterschiedlich geregelt werden.

Wie helft ihr Kindern, die wegen schulischen oder emotionalen Problemen zu euch kommen?

Michaela Holte: Wir haben ein breites therapeutisches Angebot, über die Behandlung von Lern- und Leistungsstörungen hinaus wird das gesamte Spektrum emotionaler, dissozialer und psychosomatischer Störungen therapiert. Wir richten uns nach der Problemlage des Kindes. Beim Lösen von Lernblockaden beispielsweise gehen wir sehr spielerisch vor, indem wir erst mal mit Zahlen und Wörtern spielen, also auf einer Entwicklungsstufe, die noch gar nicht im schulischen Bereich liegt. Wir gucken nach den grundlegenden Schwierigkeiten und versuchen, erst mal Erfolge zu vermitteln, damit die Kinder wieder Spaß am Lernen haben, und dann kann man langsam aufbauen.

Gibt es eine direkte Korrelation zwischen Lese-Rechtschreibschwäche und häuslichen Problemen?

Holte: Studien zufolge haben Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche später lange noch Integrationsprobleme, machen einen schlechteren Schulabschluß und fallen mehr durch Gewalttätigkeit auf. Andersherum kann man nicht sagen, daß Kinder aus einem schwierigen Zuhause automatisch eine Lese-Rechtschreibschwäche kriegen. Schwerpunktmäßig haben wir uns immer um Kinder gekümmert, die schlechte Bildungsvoraussetzungen mitbringen. Da gibt es sicherlich eine Korrelation, daß die Kinder, die nicht ans Lesen herangeführt werden, es tendenziell schwerer haben. Ganz oft bauen Kinder, die schon früh frustriert werden, weil sie merken, sie kommen nicht so klar wie andere Kindern, Blockaden auf. Oder die Kinder sind mit sonstigen Problemen so überlastet, angefangen von Trennungsfamilien bis hin zu psychischen oder Drogenproblemen der Eltern, daß sie schlechte Noten haben. Wir gucken dann immer sehr genau, welche Rolle diese emotionale Belastung spielt. Wir bieten Lern- und Psychotherapie und schwerpunktmäßig Psychotherapie mit Übungsanteilen an.

Seid ihr auch in Kontakt mit den Eltern?

Holte: Das gehört bei Kinder- und Jugendtherapie auf jeden Fall mit dazu. Die Hilfe zu Erziehung richtet sich sowieso an die Eltern. Und die Eingliederungshilfe bezieht immer auch das Umfeld mit ein. Es ist nicht mit der Einstellung getan, „Ich bringe mein Kind in die Reparaturwerkstatt und hole es dann wieder ab, wenn es heile ist."

Kann man eure Stellung in der Jugendhilfe als besonders bezeichnen?

Holte: Ja, das Berliner Konzept, daß therapeutische gemeinsam mit sozialpädagogischen Hilfen in der Jugendhilfe in einem Paket zu haben sind, gibt es nicht in allen Bundesländern. Dafür wurde lange gekämpft. Wir sind also nicht bei den Krankenkassen untergebracht, die nach dem Krank-Gesund-Schema handeln. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz geht nicht vom Verständnis aus, das Kind ist krank und muß gesund gemacht werden, sondern eröffnet dem Kind und seiner Familie neue Entwicklungsmöglichkeiten. Die Bedingungen, unter denen die Hilfe geleistet werden kann, ist einerseits über das achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) und andererseits über einen Rahmenvertrag geregelt.

Und dieser Rahmenvertrag wurde zum 1. Januar 2007 geändert.

Holte: Bisher wurden Fachleistungsstunden bewilligt, in denen eine Einheit für die Lerntherapie mit 90 Minuten und für die Psychotherapie mit 80 Minuten berechnet wurde, und in denen die Zusammenhangsarbeit enthalten war. Zum 1. Januar wurden die Stunden auf je 60 Minuten vereinheitlicht. Die Verhandlungskommission hat uns das so verkauft, als würde nur eine organisatorische Größe umgerechnet werden. Aber de facto versuchen die Bezirke darüber einzusparen. So muß die Zusammenhangsarbeit nun gesondert beantragt werden.

Uwe Spindler: Einige Bezirke haben den Umstand, daß wichtige Teile der Vereinbarung nicht in der Rahmenleistungsvereinbarung festgeschrieben sind, sondern in einem unverbindlichen Senatsrundschreiben ausgeführt werden, dazu genutzt, Kürzungen durchzusetzen.

Holte: In der Vergangenheit gab es Ausführungsvorschriften zu den Gesetzen, die bindend waren. Das wurde jetzt bewußt unterlassen, obwohl uns signalisiert wurde, das Rundschreiben sei bindend.

Spindler: Kürzungen finden in erster Linie nicht beim Klientel, sondern bei den Trägern statt. Die Kinder bekommen im großen und ganzen in gehabtem Umfang ihre Therapiestunden.

Holte: Was so nicht stimmt. Seit Berlin Haushaltsschwierigkeiten hat, gab es immer wieder Kürzungen. Obwohl jede Familie einen individuellen Anspruch hat, wurde über die letzten Jahre schon auf informeller Ebene versucht, Regelkontingente durchzusetzen. Diese erlauben es nicht mehr, wöchentlich zweimal zu arbeiten.

Spindler: Wenn der Bezirk eine Weisung rausgeben würde, „es gibt nicht mehr als hundert Stunden", wäre das rechtswidrig, denn laut SBG VIII ist diese Hilfe ein einklagbarer Individualanspruch. Die Hilfe darf nicht an Regelkontingenten, sondern muß am Bedarf der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet werden, der in Jugendhilfekonferenzen festgelegt wird. Daher gibt es keine offiziellen Weisungen in diese Richtung.

Holte: Die Familien sind oft nicht in der Lage, ihr Recht einzuklagen. Emotional und psychisch nicht. Eigentlich müßte die Jugendhilfe die Eltern bei der Antragstellung unterstützen. Wenn das unterbleibt oder Familien sogar entmutigt werden, stellen sie den Antrag nicht, und es ergibt sich der Anschein, es gäbe keinen Bedarf.

Spindler: Wir haben die letzten Verträge erst im Mai 2005 mit der Senatsverwaltung unterschrieben. Da war das alles unter Dach und Fach. Ein Jahr später haben sie angefangen, alles neu zu regeln. Intendiert war eine berlinweite Vereinheitlichung. Aber bestimmte Fakten sind nicht fest in die Verträge geschrieben worden, was jetzt dazu führt, das jeder Bezirk das macht, was er meint. Alles, was außerhalb dieser 50-Minuten-Arbeit mit dem Klienten liegt, wird von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich gehandhabt. In Kreuzberg beispielsweise werden pauschal 15 Stunden für Zusammenhangsarbeiten bewilligt, ganz egal, ob die Therapie einstündig die Woche oder zweistündig ist. D.h. je länger der Umfang der Therapie, desto geringer sind prozentual die nichtpersonenbezogenen Tätigkeiten. Andere Bezirke halten sich an die Umrechnung, da gibt es bis zu 30 Prozent auf die Gesamtleistung. Was dann dazu führt, daß es von Bezirk zu Bezirk eine unterschiedlich bezahlte Tätigkeit gibt.

Holte: Und ein Kind von Bezirk zu Bezirk eine ganz andere Leistung bewilligt bekommt.

Seid ihr in ganz Berlin vertreten?

Spindler: Die Ostbezirke sind nach wie vor unterrepräsentiert. Dort haben wir Legastheniezentren in Prenzlauer Berg und Friedrichshain.

Inwieweit bewilligen die Bezirke unterschiedlich?

Spindler: In Hellersdorf-Marzahn werden wenige bis keine ambulanten Psychotherapien bewilligt. In Pankow sind es auch wenige, während es in Kreuzberg sehr viele gibt. Trotz Doppelbezirk gibt es in Friedrichshain verhältnismäßig weniger Bewilligungen.

Holte: Die Schwierigkeit in den Ostbezirken, Hilfe bei Legasthenie oder Rechenschwäche bewilligt zu bekommen, hat vermutlich historische Gründe. Das Legastheniezentrum Berlin e.V. entstammt der Studentenbewegung an der FU, wo sich Studenten und Psychologen dafür stark gemacht haben, daß Psychotherapie in der Jugendhilfe eine Bedeutung bekommt. Von daher haben wir es in den Westbezirken einfacher, obwohl wir auch beispielsweise in Spandau viele Therapeuten entlassen mußten, weil es drastisch weniger Bewilligungen gab. 35 Jahre lang sind unsere Beziehungen zu den Schulen, Jugendämtern, Fachdiensten und weiteren Therapeuten gewachsen. In den Ostbezirken ist es schwer, Zentren zu öffnen und zu halten, wenn es keine Bewilligungen gibt. Dort hatte die Psychotherapie in der Jugendhilfe nicht so eine Verbreitung gefunden, sie wurde lange als Kassenleistung verstanden. Aber die Krankenkassen übernehmen keine Lerntherapie, weil Lese-Rechtschreib- und Rechenschwäche keinen Krankheitswert haben.

Spindler: Es ist schon ein Feld für die Zukunft, das wir bearbeiten. Wir wirken darauf hin, daß die Hilfe für ein Kind nicht davon abhängen kann, in welchem Bezirk es wohnt. Es ist sowohl von Senatsseite wie auch von Seiten der Wohlfahrtsverbände immer noch gewollt, daß diese Therapieformen Bestandteil der Jugendhilfe bleiben. Es stand öfter zur Diskussion, die Lerntherapie auszuschließen, aber das ist mit der Neuregelung zum Glück wieder nicht passiert. Also eine schizophrene Situation: Viele wollen, daß die ambulante therapeutische Hilfe beim Jugendamt bleibt, aber auf der anderen Seite wird sie zusammengestrichen und eingedampft. 

Interview: Sonja John

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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