Jung, männlich, kinderlos
Studenten verlieren an Flexibilität
Internationalisierung und Harmonisierung der
Hochschulabschlüsse lauten die Stichworte jenes
Studienreformvorhabens namens Bologna-Prozeß, bei dem nach und
nach die aufeinander aufbauenden Studienabschnitte Bachelor, Master und
Promotion zum Standardgerüst eines jeden Studiengangs in der EU
werden sollen. Diplom und Magister werden dabei abgeschafft. Die
Humboldt-Universität, in ihrem Bestreben, in den Reigen der
heranreifenden bundesdeutschen Eliteuniversitäten einzutreten,
gilt als eine Vorreiterin in der Umsetzung dieser Studienreform.
Daß sie aus der Sicht der Studierenden allerdings zu alles
anderem als harmonischen Studienbedingungen geführt hat, zeigen
die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die eine
Projektgruppe engagierter Studenten durchgeführt und ausgewertet
hat.
Im Vergleich zu den alten Diplom- und
Magisterstudiengängen wird mit den Bachelor- und Masterprogrammen
deutlicher auf feste Studienpläne, erhöhtes Arbeitspensum und
die Kontrolle der Studienleistungen gesetzt. Wo es früher
möglich war, das Studium je nach Lebenssituation zu straffen oder
zu dehnen, sind die als Orientierungsmaßstab eingeführten
Regelstudienzeiten nun zu festen Obergrenzen geworden. Dies trifft
besonders all jene Studierende, die neben dem Studium anderen
Beschäftigungen nachgehen, also z.B. der Erwerbsarbeit, der
Betreuung von Kindern oder der Pflege von Familienangehörigen,
oder die aufgrund ihrer körperlichen oder seelischen Verfassung
nicht dem Maßstab des Normstudenten entsprechen.
Die Umfrage der Projektgruppe Studierbarkeit hat nun
ergeben, daß zwei Drittel der Studenten Lebensumstände
angeben, die eine Belastung für das Studium darstellen, darunter
auch viele Mehrfachbelastungen. Im Hauptstudium z.B. sind 78%
berufstätig, 8% chronisch krank, 4% pflegen Angehörige und 8%
haben Kinder. Weit mehr als die Hälfte aller Befragten geht davon
aus, daß sie wegen solcher Belastungen die vorgesehene
Regelstudienzeit nicht einhalten kann.
Unter diesen Bedingungen bedeutet ein Studium, das die
volle Aufmerksamkeit und Kraft der Studenten beansprucht und wenig
Flexibilität bietet, im Endeffekt eine Schlechterstellung eines
Großteils der Studenten. Da mittlerweile für abgebrochene
Seminare, Überschreitung der Regelstudienzeit u.ä. sogenannte
Maluspunkte gesammelt werden, müssen außeruniversitär
belastete Studenten doppelt mit Nachteilen rechnen: Sie haben
einerseits weniger Zeit, sich angesichts einer zunehmenden Fülle
kleiner Hausaufgaben und Kontrollklausuren dem eigentlichen Sinn des
Studiums, dem Lernen und der wissenschaftlichen Arbeit, zu widmen und
drohen daher schlechter benotet zu werden. Andererseits drohen die
Maluspunkte die Abschlußnote weiter zu drücken.
Rose-Marie Seggelke, die Vorsitzende der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft in Berlin, fordert in Reaktion auf die
Umfrage, daß die neuen Studiengänge auch in Teilzeit
studierbar sein müßten. „Nur so läßt sich
verhindern, daß der Prototyp des Studierenden jung,
männlich, aus gutem Hause und kinderlos wird", so Seggelke.
Muß man nun annehmen, daß eine Studienreform
an einer Möchtegern-Eliteuniversität wie der HU zielgerichtet
dazu genutzt wurde, zunächst all jene Studenten zu fördern
und anzutreiben, die den allerbesten sozialen Voraussetzungen
unterliegen, und einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung
demgegenüber hintanzustellen? Doch auch wenn dies prächtig
zum Elitegedanken paßte, mag die Universitätsleitung sich
diesen Schuh dennoch nicht anziehen. Die studentische Projektgruppe
berichtete, daß in ersten Gesprächen mit dem Präsidium
der HU von diesem „handwerkliche Fehler" bei der Umsetzung der
Studienreform eingeräumt worden seien.
Immerhin ergab die Untersuchung auch, daß mit der
Studienreform bezweckte Ziele wie eine verbesserte Beratung und
Betreuung der Studierenden ebenfalls nicht erreicht worden seien. Das
Bachelor-Master-System, das eine Vereinheitlichung des
europäischen Studiums bezwecken sollte, scheitert darüber
hinaus bereits vor Ort: Schon die Kombination zweier Fächer an ein
und der selben Universität wird den befragten Studenten zufolge
aufgrund der starren Studienpläne zu einer kaum zu
bewältigenden Aufgabe.
So kommt die Projektgruppe Studierbarkeit auch zu einem
durchaus zwiespältigen Ergebnis: Einerseits beruhten viele
Probleme auf einer zu eiligen Umsetzung der Studienreform an der
Humboldt-Universität und könnten im Rahmen der
Gestaltungsspielräume vor Ort wieder behoben werden. Andererseits
seien die Befunde nicht HU-spezifisch, sondern seien auch an vielen
anderen Universitäten anzutreffen sie seien struktureller
Natur. Damit wird klar, daß die Studienreform selbst einen
Großteil der Probleme verschuldet hat.
Mittlerweile haben engagierte Studenten einer Reihe
weiterer bundesdeutscher Universitäten Interesse am Zuschnitt der
HU-Umfrage bekundet: Sie wollen sie ebenfalls an ihren Unis
durchführen. Wir dürfen also gespannt auf weitere Ergebnisse
sein und darauf, ob sie schließlich zu einer Reform der Reform
führen mögen.
Tobias Höpner