Ausgabe 05 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die hohe Schule der Dressur

Thomas Friedrich erzählt, wie sich Berlin
vom Nationalsozialismus instrumentalisieren ließ

Niemand hat Berlin radikaler verändert als er, hat Berlin als Bühne benutzt, Hunderttausende seiner Einwohner verfolgt, deportiert, ermordet, die Stadt einer flächendeckenden Zerstörung zugeführt. Und dennoch lag bislang keine Monographie zum speziellen Verhältnis von Hitler zu Berlin vor. Es ist eine geradezu bizarre Lücke in der umfangreichen Forschung zum Nationalsozialismus und zur Person Hitlers. Auch eine Gesamtdarstellung der NSDAP in Berlin sucht man vergeblich ­ lediglich eine Selbstdarstellung aus dem Jahr 1937 liegt in den Archiven: ein kitschiges Propagandamärchen, von der Partei selbst herausgegeben.

Diese Leerstelle ist umso unerklärlicher, als die NSDAP, wie Friedrich schreibt, Berlin erst „erobern" mußte. Berlin war Experimentierfeld für neue Propagandastrategien, Probebühne nationalsozialistischer Rituale und Verfolgungsaktionen. In den 20er Jahren erprobte und verfeinerte Gauleiter Joseph Goebbels hier Inszenierungen, um diese schließlich auf das ganze Deutsche Reich anzuwenden. Aus einer sektiererischen Splitterpartei machte er eine machtvolle und hierarchisch organisierte Massenorganisation. Und so widmet sich auch der Hauptteil des Buches dieser „Experimentierphase". Die Zeit nach 1933 wird lediglich im letzten Kapitel verhandelt; Friedrich beanpsrucht auf den vorliegenden 400 Seiten nicht, diese Lücke umfassend und abschließend zu füllen.

Friedrich legt wert darauf festzustellen, daß er mit seinem Buch Berlin nicht etwa späte Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte ­ auch wenn der Titel mißverstanden werden könnte: im Sinne früherer Deutungen, die die Stadt lediglich als Opfer einer braunen Verführungsmaschinerie verstanden, dessen eigentliches Wesen sich in der kosmopolitischen und avangardistischen Metropole der 20er Jahre verkörperte. Diese Interpretation ­ ebenso wie die des „Großstadtfeindes" Hitler ­ rechnet Friedrich den populären Geschichtsirrtümer zu.

In seinem Buch unternimmt er den quellensatten Versuch, das komplexe und widersprüchliche Verhältnis Hitlers zur Hauptstadt differenziert zu beschreiben und in insgesamt elf Phasen, von 1916 bis 1933 und danach, zu unterteilen. Jede dieser Phasen ergibt sich aus der Analyse der jeweiligen politischen Situation, in der Hitler „in und gegenüber Berlin agiert". Im Gegensatz zu zahlreichen Darstellungen, die psychologische Motive in den Mittelpunkt rücken, wird für Friedrich das politische Kalkül, eine rationale Strategie zum Machterwerb, das entscheidende Erklärungsmuster. Er nennt die Beziehung von Hitler zu Berlin zusammenfassend ein „instrumentelles Verhältnis".

Der Autor ist nicht mit dem Publizisten Jörg Friedrich zu verwechseln, der mit seinem Buch Der Brand über die Bombenangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg die Opferdebatte in Deutschland maßgeblich anstieß. Thomas Friedrich ist Stadthistoriker, arbeitete viele Jahre als Projektleiter für die Berliner Topographie des Terrors und ist demnach gründlich mit der jüngeren Stadtgeschichte, insbesondere dem Nationalsozialismus, vertraut. Er schöpft aus einem breiten Wissen über diese Zeit und konnte viele Quellen erstmals für die Forschung erschließen. Daß dies mitunter auf Kosten der Lesbarkeit geschieht, ist schade. Streckenweise ist die historische Recherche so gründlich geraten, daß auch Details Exkurscharakter bekommen und man sich Ausführungen häufiger in den Anmerkungsapparat verbannt wünscht. Doch vielleicht macht auch genau dies den Reiz für stadthistorisch Interessierte aus. In jedem Fall wird das akribische Vorgehen dem Buch den Rücken stärken gegenüber einer engagierten und streitlustigen Fachwelt, die immer wieder neue Perspektiven auf unterbelichtete Aspekte entwickelt. Dieses Buch steht beispielhaft für diese fruchtbare Tradition. 

Henrik Flor

Thomas Friedrich: Die mißbrauchte Hauptstadt. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 26 Euro.

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