Die hohe Schule der Dressur
Thomas Friedrich erzählt, wie sich Berlin
vom Nationalsozialismus instrumentalisieren ließ
Niemand hat Berlin radikaler verändert als er, hat
Berlin als Bühne benutzt, Hunderttausende seiner Einwohner
verfolgt, deportiert, ermordet, die Stadt einer flächendeckenden
Zerstörung zugeführt. Und dennoch lag bislang keine
Monographie zum speziellen Verhältnis von Hitler zu Berlin vor. Es
ist eine geradezu bizarre Lücke in der umfangreichen Forschung zum
Nationalsozialismus und zur Person Hitlers. Auch eine Gesamtdarstellung
der NSDAP in Berlin sucht man vergeblich lediglich eine
Selbstdarstellung aus dem Jahr 1937 liegt in den Archiven: ein
kitschiges Propagandamärchen, von der Partei selbst herausgegeben.
Diese Leerstelle ist umso unerklärlicher, als die
NSDAP, wie Friedrich schreibt, Berlin erst „erobern" mußte.
Berlin war Experimentierfeld für neue Propagandastrategien,
Probebühne nationalsozialistischer Rituale und
Verfolgungsaktionen. In den 20er Jahren erprobte und verfeinerte
Gauleiter Joseph Goebbels hier Inszenierungen, um diese
schließlich auf das ganze Deutsche Reich anzuwenden. Aus einer
sektiererischen Splitterpartei machte er eine machtvolle und
hierarchisch organisierte Massenorganisation. Und so widmet sich auch
der Hauptteil des Buches dieser „Experimentierphase". Die Zeit
nach 1933 wird lediglich im letzten Kapitel verhandelt; Friedrich
beanpsrucht auf den vorliegenden 400 Seiten nicht, diese Lücke
umfassend und abschließend zu füllen.
Friedrich legt wert darauf festzustellen, daß er
mit seinem Buch Berlin nicht etwa späte Gerechtigkeit widerfahren
lassen möchte auch wenn der Titel mißverstanden werden
könnte: im Sinne früherer Deutungen, die die Stadt lediglich
als Opfer einer braunen Verführungsmaschinerie verstanden, dessen
eigentliches Wesen sich in der kosmopolitischen und avangardistischen
Metropole der 20er Jahre verkörperte. Diese Interpretation
ebenso wie die des „Großstadtfeindes" Hitler rechnet
Friedrich den populären Geschichtsirrtümer zu.
In seinem Buch unternimmt er den quellensatten Versuch,
das komplexe und widersprüchliche Verhältnis Hitlers zur
Hauptstadt differenziert zu beschreiben und in insgesamt elf Phasen,
von 1916 bis 1933 und danach, zu unterteilen. Jede dieser Phasen ergibt
sich aus der Analyse der jeweiligen politischen Situation, in der
Hitler „in und gegenüber Berlin agiert". Im Gegensatz zu
zahlreichen Darstellungen, die psychologische Motive in den Mittelpunkt
rücken, wird für Friedrich das politische Kalkül, eine
rationale Strategie zum Machterwerb, das entscheidende
Erklärungsmuster. Er nennt die Beziehung von Hitler zu Berlin
zusammenfassend ein „instrumentelles Verhältnis".
Der Autor ist nicht mit dem Publizisten Jörg
Friedrich zu verwechseln, der mit seinem Buch Der Brand über die
Bombenangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg die
Opferdebatte in Deutschland maßgeblich anstieß. Thomas
Friedrich ist Stadthistoriker, arbeitete viele Jahre als Projektleiter
für die Berliner Topographie des Terrors und ist demnach
gründlich mit der jüngeren Stadtgeschichte, insbesondere dem
Nationalsozialismus, vertraut. Er schöpft aus einem breiten Wissen
über diese Zeit und konnte viele Quellen erstmals für die
Forschung erschließen. Daß dies mitunter auf Kosten der
Lesbarkeit geschieht, ist schade. Streckenweise ist die historische
Recherche so gründlich geraten, daß auch Details
Exkurscharakter bekommen und man sich Ausführungen häufiger
in den Anmerkungsapparat verbannt wünscht. Doch vielleicht macht
auch genau dies den Reiz für stadthistorisch Interessierte aus. In
jedem Fall wird das akribische Vorgehen dem Buch den Rücken
stärken gegenüber einer engagierten und streitlustigen
Fachwelt, die immer wieder neue Perspektiven auf unterbelichtete
Aspekte entwickelt. Dieses Buch steht beispielhaft für diese
fruchtbare Tradition.
Henrik Flor
Thomas Friedrich: Die mißbrauchte Hauptstadt. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 26 Euro.