Quod licet Jovi, non licet bovi
Ditte ist zur Liebesquelle von Woltersdorf gereist. Da,
wo andere in Hundescheiße treten, wandelt sie auf
Rosenblättern bis zur Quelle. „Schlecht geschnittene Haare
habe ich immer noch", denkt sie, sich im Wasser betrachtend.
Der Sprosser jubiliert. Das ist doch zum
Mäusemelken! Wer erscheint da, nein, nicht wie Phönix aus der
Asche, eher einem gefallenen Stern gleich im verlöschenden Glanz
und in der Strahlkraft von vergangenem Ruhm? Der, dem man längst
Nachrufe hinterher gemurmelt hat, die im Stehsatz bei regionalen und
überregionalen Presseerzeugnissen abgelegt sind, den man
längst ins Jenseits wünscht? Von dem sie neulich lesen
durfte, daß der hundertjährige Komponist sich zum ersten Mal
vermählt habe? Und daß seine Angetraute kurz nach der
Vermählung in seinen Armen verschied als Frau
Koch-Kämmnitzsch? Die letzten Worte von Frau Clara Koch-
Kämmnitzsch, geb. Döring, als sie ihre Augen für immer schloß, waren: „Dieses Lügenschwein".
Conrath Koch-Kämmnitzsch scheint von all dem
ziemlich unbeeindruckt, der alte Schlawiner hat sich herausgeputzt wie
ein italienischer Zuchthahn bzw. Hühnerzüchter auf Brautschau
im Speckgürtel von Berlin, in Woltersdorf, wo sich Ditte und
Menschenkind noch einmal eine Chance geben wollten, kommen doch hierher
sogar strenggläubige Katholoken aus Polen, aus deren Ehe die Luft
raus ist. Ja, ganz richtig, Katholoken, eine Sekte, die von polnischen
Eisenbahnern gegründet wurde. Ditte steht unter Dampf, und die
Erscheinung von CKK (wie wir ihn bereits in früheren Folgen
abgekürzt haben vielleicht erinnert sich der eine und die
andere!)* verwan-delt den Dampf in Bewegung für eine strikte
Flucht nach vorn. Sie strebt einem Gebüsch entgegen, hinter das
sie sich zu retten wünscht. Nein, auch das noch, auch die noch!
Larissa! Liegt auf einer winzigen Lichtung im Sonnenschein, am Herzen
einen noch winzigen Säugling, den sie herzt und betuttelt. Ditte,
völlig außer sich, stammelt: „Ach, du auch hier", um
dann doch noch die Frage nachzuschieben: „Und das da, also wer
ist das da?" Larissa, dieses Täubchen, gurrt mit allen
Gutturallauten, die ihr selbstgebasteltes Deutsch zuläßt,
„Burljuk, der Gebissene, der Stachanowjez unter den
Säuglingen! Er überbietet das Soll um 50 Prozent, ein
Säufer vor dem Herrn, ganz wie der Vater!" Aus Dittes noch rosigem
Gesicht weicht schlagartig Farbe und Tünche sie wird
käseweiß. Also doch, Menschenkind hat sie heimtükkisch
folgenreich betrogen. Giftige Blitze wirft sie auf das kleine
Menschenkind, um dann doch nach Ähnlichkeit zu suchen, unsere
gedemütigte Ditte. Der herzige Genosse Burljuk wiederum schaut
zunächst trotzig zurück, beginnt etwas später leise zu
plärren und steigert sich in Windeseile zu einer Art Kriegsgeheul,
welches die Grillen verstummen und die Bäume sich schütteln
läßt. Selbst Ditte schaudert es kurz, dieses Geheul, dunkle
Erinnerungen, irgendwie scheint es ihr bekannt. Schlagartig verstummt
Burljuk und verlangt wortlos nach Mütterchens Brust. Auch diese
Verhaltensweise scheint Ditte bekannt zu sein, nein, oder doch? Nein!
Doch! Koch!?
„Sag mal, Larissa, der Vater, wer oder was ...?"
Der aufkommende Lärm läßt Dittes Frage untergehen. Arm
in Arm, laut singend, daß die Karawanken wanken und die Alpen
beben würden, wandern Menschenkind und CKK auf die Frauen zu.
Burljluk, der kleine genießende Genosse, stimmt ein. Das ergibt
die Kakophonie, für die CKK steht. „Meine Mädels", ruft
der Lustgreis ausgelassen, aber Menschenkind wirft sich zwischen Ditte
und den agilen Komponisten. „Finger weg, du hast schon die Clara
Döring unglücklich gemacht! Quod licet Jovi, non licet bovi!
Koch-Kämmnitzsch, bremse dich!"
Ditte und Menschenkind verlassen den Schauplatz, dank
dieser Turbulenzen frisch verknallt in Richtung Wald. Was aber wird aus
CKK, Larissa und dem Söhnchen? Eine atonale eheähnliche
Bedarfsgemeinschaft? Oder nichts? Alles ist möglich, solang der
Kuckuck ruft und das Käuzchen schreit: Es lebe Freud und
Leid!
Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek
www.freud-und-leid.de
*Conrath Koch-Kämmnitzsch, der Begründer der
textierten Strophe im nonverbalen Bereich der modernen Kammermusik. Die
mütterliche Linie seines weit verzweigten Stammbaums reicht bis zu
den anonymen Verfasserinnen der Merseburger Zaubersprüche
zurück, die prominenteste Verwandte dieses Astes ist freilich die
Gattin Ernst Thälmanns. Im Memelland aufgewachsen, verschlug es
den atonalen Tonsetzer in die Nähe von Adrian Leverkühn
Anfang der zwan-ziger Jahre in den norddeutschen Raum.