Kleiner brauner Freund
Die Puppen- und Bärenklinik
Das Gesundheitszentrum ist viel besucht. Schon
praktisch, wenn alle Ärzte sich in einem Haus befinden. Das
verkürzt Wege. Stefanie folgt dem Schild zu Josefines Puppen- und
Bärenklinik. Dieses ist ganz plakativ mit zwei Gesichtern
verziert, dem einer Puppe und eines Teddybären. Aufgang A, erster
Stock. Die Treppe hoch und am Hausarzt vorbei, schon steht sie vor der
Praxis. Von außen meint man, durch das Schaufenster einer
Spielwarenhandlung zu schauen. Nur, daß diese außer
Knuddelobjekten keine weiteren Spielzeuge führt. Die
unzähligen Kuscheltiere und Puppen in der riesigen Glasvitrine
wirken, als würden sie über die Besucher tuscheln.
Besorgt guckt Stefanie hinunter zu dem kleinen
Bündel in ihrer Hand. In eine Socke gewickelt lugt ein kleiner
brauner Bärenkopf hervor. Die schwarzen Äuglein mustern die
Umgebung interessiert. Sie hält ihn in der Hand und stellt ihn
vor: „Ich habe hier einen kleinen Patienten." Josefine ist beim
Anblick des Kleinen ganz verzückt. „Ach, ist das ein
Süßer! Wo ist der denn her?" So herzlich wurde Hugo noch nie
empfangen.
Hugo wird im Sommer sechs Jahre alt, und diese sechs
Lebensjahre haben sein Fell ziemlich gezeichnet. Es ist zerzaust, und
er sieht ausgemergelt aus. Die Füllung ist keine Füllung
mehr, so daß der Bär nur noch schlaff dahängt und kaum
noch aufrecht sitzen kann. Ihm geht es offenbar nicht sonderlich gut.
Stefanie weiß, er braucht ein Lifting. Nun soll Josefine ihn
wieder in Form bringen.
Josefine setzt sich an den Schreibtisch und nimmt die
Daten des kleinen Bären auf, will wissen, wie er heißt, was
er hat, was gemacht werden soll. Eine klassische Anamnese. Das Fazit:
Der kleine Patient muß stationär behandelt werden.
Stefanie wird ein bißchen bleich, als sie ihn
hergeben soll. Denn Hugo hat noch nie allein bei Fremden
übernachtet. Josefine wickelt ein Gummi um Hugos Bauch, mit dem
sie einen Zettel an ihm befestigt. Dann wandert er in die Kiste mit den
anderen Kuscheltieren. „Es war schlimm, ihn dort zu lassen.
Für mich begannen qualvolle Tage, für ihn natürlich
auch." Fünf Tage sind die beiden nicht zusammen, die sich die
letzten Jahre täglich gesehen haben, gemeinsam aufgewacht,
gemeinsam schlafen gegangen sind.
Die Übergabe findet am U-Bahnhof Alexanderplatz
statt. Wippend steht Ste-fanie da, guckt laufend auf die Uhr. Auf ihren
Teddybären zu warten, ist für sie so aufregend wie das
Wiedersehen mit einem Lebenspartner nach einem langen
Auslandsaufenthalt. Das freudige Strahlen erstarrt zunächst, als
Josefine den kleinen Hugo präsentiert. „Als ich ihn gesehen
habe, war ich erschrok-
ken, weil er etwas anders aussah, seine dünnen Beinchen steifer
waren als vorher." Wohlgenährt sieht er nun aus, wie nach einer
langen Kur in einem fränkischen Heilbad. Josefine beruhigt sie,
wenn die Füllung sich gesetzt hat, ist er nicht mehr so steif. Und
tatsächlich. Nach einigen Tagen, nachdem Stefanie sich ein paar
Male des nachts über ihn gerollt hat, wackeln alle Beinchen wieder
wie gehabt.
Josefine ist pensioniert. Diese Arbeit im
Gesundheitszentrum macht sie nur aus Spaß an der Freude. Die
Freude, die Tierchen und Puppen wieder zu reparieren. Und auch wegen
der Freude daran, die Menschen wieder glücklich zu sehen.
Während Stefanie mit Hugo im Arm von dannen schreitet, steigt
Josefine in die U-Bahn und macht sich auf ihren Weg zu einer
Spielzeugmesse. Dort will sie Arme, Beine und weitere Accessoires
einkaufen, die sie für die nächsten Patienten verwenden
kann.
Sonja John