Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Körper und Seele

Heilpraktiker werden weiterhin produziert

Heilpraktiker sind der Renner. Bereits seit Jahren. Wenn der Arzt die Beschwerden nicht lindern kann, wird schnell nach einem Heilpraktiker gefahndet. Einen zu finden, stellt in Berlin kein Problem dar, außer man wohnt in den östlichsten Bezirken. „Diese sind bisher noch unterversorgt", weiß Gyde Eichler, Heilpraktikerin und Homöopathie-Lehrerin.

Um Ärztin zu werden, fing sie zunächst mit dem Studium der Psychologie und Medizin an, aber war von den Ansätzen enttäuscht. „Sie bieten kaum Antworten, sondern nur die Wahl zwischen Operation und Antibiotika." Die Studiengänge findet sie fatal und das Menschenbild ziemlich komisch. Selbst in der Psychologie lernte sie wenig über Menschen, sondern zumeist Statistik. Mit der Heilpraktik kam sie das erste Mal in ihrer WG in einem besetzten Haus in Berührung. Als sie sich mit der Mitbewohnerin über diese Heilansätze austauschte, wußte sie, was sie machen will. „Heilpraktik bringt körperliche und seelische bzw. spirituelle Elemente zusammen. Ich hatte das erste Mal Gefühl, Lösungen geboten zu bekommen und nicht hilflos zu sein."

Dreieinhalb Jahre besuchte sie die Kreuzberger Heilpraktikschule in Selbstverwaltung, an der sie nun selber unterrichtet. Die Ausbildung besteht aus zwei Teilen. Zum einen lernt man den Stoff der Schulmedizin, der in der Amtsarztprüfung abgefragt wird: Diagnostik, Psychologie und Anatomie. Zum anderen wählen die Schüler aus dem Angebot der verschiedenen Therapiefächer diejenigen Ansätze, mit denen sie später arbeiten wollen: Homöopathie, Körperarbeit, traditionelle chinesische Medizin, Pflanzenheilkunde. Gyde Eichler hat sich auf Homöopathie spezialisiert. Sie war von dieser geistigen Heilmethode fasziniert, die ihrer Meinung nach am besten wirkt. Vorausgesetzt, man findet aus den über 2000 Mitteln das richtige. „Alle auf dem Kasten zu haben ist nicht so einfach." Diese Heilmethode will verstehen, wieso sich die Krankheit bei dem Menschen niedergeschlagen hat. Der Heilpraktiker guckt sich die Psyche, die Träume an, versucht, die Person vom Grundkern zu erfassen. „Krank wird man an einer bestimmten Stelle des Lebens, an der sich der Organismus falsch gepolt hat und nicht mehr selber herausfindet. Da setzen wir an, und die Beschwerde verliert den Anlaß." So kann sie einem Patienten, der unter Neurodermitis und depressiven Neigungen leidet, seitdem er sich getrennt hat, ein Mittel gegen Trennungsschmerz geben. Kummer sei in dieser Lebenslage zwar zu einem Maße gesund, aber nicht, wenn einer in dem Trennungsschmerz stekken bleibt.

Seit Jahren führt sie ihre eigene Praxis in Friedrichshain und zieht demnächst in größere Praxisräume um. Obwohl die Schule immer Wartelisten hat und Jahr für Jahr neue Heilpraktiker „produziert", gibt es in Berlin kein Überangebot. Der Markt wächst prozentual mit. „Es gibt kaum Eltern, die ihre Kinder nicht zum Heilpraktiker bringen. Viele Eltern zahlen gerne für das Kind, auch wenn sie es sich für sich selber zunächst nicht leisten wollen." Die Privatversicherungen übernehmen Heilpraktikerkosten anstandslos, die Zusatzversicherungen in der Regel achtzig Prozent, während die Gesetzlichen gar nichts zahlen.

Häufige Beschwerden, wegen derer Menschen einen Heilpraktiker aufsuchen, sind Migräne, Asthma, Allergien, Neurodermitis oder Tinnitus. Gerade in der Stadt gibt es eine deutlich höhere Neigung zu Hautkrankheiten und Allergien, deren Behandlungsgrenzen irgendwann erreicht sind. Gyde Eichler ist erschrocken über die vielen Kleinkinder, die schon ab einem halben Jahr unter schlimmer Neurodermitis leiden. Die klassischen Stadtkrankheiten, Bewältigungsstreß, Rückenbeschwerden durch zu wenig Bewegung und viel Arbeit im Sitzen, sind hier weit häufiger als auf dem Land.

Die Gesamtbelastung durch schlechte Luft, Lärm und Streß kriegt sie in ihrem Berufsleben täglich zu spüren. Und natürlich auch privat. Ein Grund, ins Berliner Umland zu ziehen. Sie selber geht nie zum Arzt, höchstens zum Zahnarzt. „Ich bin gesund." Wenn, dann würde sie auch zu einem Heilpraktiker gehen, denn selber behandeln kann man sich nicht. „Weil man sich nicht selber schnallt. Wenn man wüßte, was falsch läuft, wäre man gesund." 

Sonja John

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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