Von Sieg zu Sieg
Zygmunt Bauman hat eine Erklärung für den Fitneß-Wahn
Was könnte erwachsene Menschen dazu bringen, sich
freiwillig in einer Turnhalle zu versammeln und zu stampfender Musik
und den gellenden Rufen einer durchtrainierten Mittfünfzigerin
reichlich komische rhythmische Bewegungen zu machen? Zu schwitzen,
müffelnde Umkleidekabinen und modrige Gemeinschaftsduschen
benutzen? Fitneß heißt die Lösung, und kaum jemand
würde je in Frage stellen, daß ein bißchen sportliche
Betätigung zum Wohle des Menschen sei.
Daß es sich bei dieser Art von Anstrengung um mehr
handelt, kann man bei dem polnisch-englischen Soziologen Zygmunt Bauman
nachlesen. Bauman ist zu Beginn der neunziger Jahre mit einer
beunruhigenden Interpretation des Holocaust aus dem Geist der Moderne
einem breiteren Publikum bekanntgeworden. Für ihn war der
Massen-mord lediglich eine von mehreren Entwikklungswegen, die die
Aufklärung neh-men konnte. Seine Interpretation der Moderne hilft
zu verstehen, warum Menschen unserer Zeit nach einem Zustand gieren,
der mit dem Begriff Fitneß regelrecht verschleiert wird.
Der Schlüssel zum Verständnis des modernen
Menschen liegt nach Bauman in der Aufklärung, die gleichsam die
Götter stürzte und die Herrschaft der Vernunft installierte.
Der Mensch bediente sich nun also seines Verstandes und erkannte,
daß er der Natur nicht hilflos ausgeliefert war, sondern selbst
die Möglichkeit hatte, sie zu gestalten und zu formen. Die Welt
erschien nun nicht mehr als Bedrohung, sondern als Verheißung,
als Garten, der nur darauf wartete, gehegt und gestaltet zu werden.
Weiße Flecken auf der Landkarte wurden getilgt, und es schien so,
als gebe es keine Grenzen mehr. Die Botschaft der Aufklärung, oder
das, was davon ankam, war eindeutig: Nichts ist unmöglich, man
muß es nur wollen.
Im Angesicht dieser Verheißung mußte der
Umstand, daß der Mensch sterblich ist, daß sämtliche
Anstrengungen, den Tod zu überwinden, noch stets zum Scheitern
verurteilt sind, ein Unbehagen auslösen. Der Tod, so ahnt der
moderne Mensch, ist eine Grenze, die er nicht noch nicht, wie er
klammheimlich hofft überwinden kann. Das geflügelte
Wort vom Tod als größtem Skandal des Lebens tauchte schon im
18. Jahrhundert zum ersten Mal auf. „Der Tod war das letzte, aber
anscheinend unverrückbare Relikt des Schicksals in einer Welt, die
immer mehr von der Vernunft geplant und kontrolliert wurde",
erklärt Bauman.
Wie mit dieser Erfahrung, der Demütigung, an eine
Grenze zu stoßen, umgehen? Der Mensch wählt die Lösung,
die auch an anderer Stelle funktioniert: Das Problem wird einfach nicht
mehr thematisiert. Das bedeutet in der Praxis, daß der Tod aus
dem täglichen Leben verbannt wird: Gestorben wird nun nicht mehr
im Kreise der Familie, sondern im Altenheim oder Krankenhaus, und dort
in speziellen Sterbezimmern; Hinrichtungen finden nicht mehr zur
Mittagszeit auf dem Marktplatz statt, sondern, wenn überhaupt,
nächtens hinter Gefängnismauern. Dazu erfindet man Rituale
und Konventionen und versucht des weiteren, den Tod semantisch zu
verstecken: beispielsweise dadurch, daß man jedem Todesfall eine
Ursache zuordnet. Denn daß jemand „einfach so" stirbt,
würde ja ein Eingeständnis bedeuten, nichts dagegen tun zu
können. Womit sich der moderne Mensch nimmer abfinden kann.
Bauman: „Der Tod als solcher ist unvermeidlich, aber jeder
konkrete Todesfall ist kontingent. Der Tod mag allmächtig und
unbesiegbar sein, die einzelnen Todesfälle sind es nicht."
Weil sich die Erfahrung des Todes und seiner
Unbesiegbarkeit aber nur verdrängen läßt, man sich nie
vollständig von ihr befreien kann, sickert sie in das
Unterbewußtsein des Menschen ein und erhält eine
größere Bedeutung denn je. Denn auf diese Weise gestattet
man dem Tod, das gesamte Leben zu beherrschen, man befindet sich nun im
permanenten Abwehrkampf, der bloß nicht so genannt wird. Durch
diese Verarbeitungsleistung haben die Ärzte die Stellung errungen,
die sie heute innehaben. Sie sind die „Halbgötter in
Weiß", die Frontschweine im Krieg gegen die Sterblichkeit. Und
sie sind durchaus erfolgreich, erringen immer wieder Siege, Schlacht um
Schlacht: Sie weisen jedem Tod eine Krankheit oder ähnliches,
jedenfalls eine konkrete Ursache zu, gegen die man vorgehen kann.
Sodann kann die Forschung neue Medikamente entwickeln oder der Einzelne
durch entsprechendes Verhalten vorbeugen.
Gesundheit wird nun zur Sache des Einzelnen. Jeder kann
etwas tun, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Hör auf zu
saufen! Nimm ab! Senk deinen Cholesterinspiegel! Achte auf deine
Zuckerwerte! Treibe Sport (zweimal pro Woche)! Ernähre dich gesund
(fünfmal Obst am Tag schützt vor Krebs)! Weil der Mensch
nicht einsehen will, daß er nicht allmächtig ist,
pathologisiert er den Alltag, medikalisiert sein Leben und
rationalisiert damit seine Todesangst. Daß es sinnvoll sein kann,
sich gesund zu ernähren wer wollte das bestreiten? Aber,
Hand aufs Herz, wer fragt sich umgekehrt nicht, was „nicht in
Ordnung" ist, wenn er von jemandem hört, der rauchend hundert
Jahre alt geworden ist?
In der Postmoderne verschärft sich das Problem.
Jetzt geht es nicht mehr darum, die Gesundheit zu erhalten, sondern nun
ist Fitneß das Ideal. Gesundheit ist die Abwesenheit von
Krankheiten, Fitneß ist aktives Wohlbefinden. Auch die
Abwesenheit von Fitneß ist nunmehr dem eigenen Versagen
geschuldet. Da man heutzutage keine Ausreden mehr hat, etwa schwere
körperliche
Arbeit, gegen deren Zumutungen man
sich zusammenschließen und rebellieren konnte, kämpft heute
jeder ganz allein gegen sich selbst. Die Verantwortung für
sein Glück kann man nicht mehr delegieren. Und ewig nagt der
Zweifel, ob man das Ziel je erreichen kann.
Durch den permanenten Zweifel entsteht Druck, der sich
zu Zeiten entladen muß. Körperpaniken und sporadische
Attacken gegen ungesundes Essen oder schädliches Verhalten
stürmen durch den Blätterwald. Stets glaubt man dann, man
habe wieder einen Sieg errungen, doch eigentlich ist der Kampf ja schon
verloren, man will es nur nicht zugeben. Also rennt man wieder in
Turnhallen und Fitneß-Studios, unterzieht sich
selbstquälerischen Übungen und macht merkwürdige
Bewegungen. Schließlich könnte der Tod jeden Moment
anklopfen. Aber das sollte man nicht so laut sagen. Man ist doch wegen
der Fitneß hier ...
Benno Kirsch