Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Leserbrief: Zum Artikel „Pflänzchen" aus scheinschlag 2/07

Ja, rauchen wir gegen den Kapitalismus. Blicken wir dem Tod offen ins Auge, mutig gehen wir ihm ein Stück entgegen. Der Kapitalismus mit seiner Befriedigung künstlich erzeugter Scheinbedürfnisse dient der Verdrängung des Todes, und das auch auf ganz unasketische Weise. Mir scheint, der Verfasser hat die Sucht und die Handlungsfreiheit des Konsumenten im Sinn.

Der Tabakkonsum ist während der Weltkriege enorm angestiegen, er dient genial für die Projektion von Sehnsüchten, der Scheinkompensation individueller Defizite und der Verdrängung unangenehmer Gefühle, ohne dabei zu berauschen. Ideal, um Leute funktionsfähig zu machen. Die Tabak-Firmen und -Werbung profitieren aus der künstlich geschaffenen Nachfrage. Den Zigarettenkonsum als reinen Genuß darzustellen, gehört zur „Gehirnwäsche" wie zur eingeschränkten Wahrnehmung des eigenen Suchtverhaltens dazu. Somit läßt sich das tolle Schlußwort umkehren in: Die Ahnung, dem Tod trotz aller Gegenmaßnahmen ausgeliefert zu sein, hat noch die tollsten (Sumpf-) Blüten innerweltlichen Genusses bzw. Scheingenusses hervorgebracht.

Der süchtige Raucher ist unfrei hinsichtlich innerer und äußerer Zwänge. Jede Gesellschaft hat die Süchte, die sie verdient und die sie braucht. Ihr dient, wenn die Menschen sich zu einem gewissen Maß Entspannung und Rausch verschaffen. Das Geniale und gleichzeitig Perfide an der Zigarette ist, daß der Entzug nicht als Unfreiheit empfunden wird, sondern als Lust auf die nächste. Zur Bestätigung setzt mit dieser die Entspannung ein.

Eine gute Voraussetzung, um süchtig zu werden (ich spreche da aus eigener Erfahrung), ist die Verdrängung eines gravierenden Mangels gepaart mit unaufgelösten Spannungen. Auch die Angst vor dem Tod.

Jetzt bilden sich die aufmüpfigen Nichtraucher ein, ohne Sucht und mit weniger Luftbelastung wäre das Leben irgendwie besser. Dafür, daß sie mit ihrem Recht auf Rauchfreiheit den Rauchern das Leben verdammt unangenehm machen, gehören sie gehörig geärgert. Am besten mit einem Vorwurf an die Kritiklosigkeit, kunstvoll getarnt als scheinbare Gesellschafts- und Kapitalismuskritik mit philosophischem Anstrich. Kompliment, äußerst geschickt!

Der scheinheilige Artikel soll wohl die scheinbar unkritischen Nichtraucher wecken, nicht völlig naiv nur das Wohl ihrer Gesundheit im Sinn zu haben, während sie als ökonomisches Material mißbraucht werden. Der angeblich genußvolle, rauchende Mensch sei sich bewußter über den Tod als der nichtrauchende, asketische. Darf ich mal ganz laut lachen?

Britte Klingenberg

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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