Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wartezonen der Just-in-time-Logistik

Eine Lastwagen-Theaterfahrt durch Berlin

Foto: Stefan Kaegi

Bilder aus Sofia vermischen sich mit dem Lärm des Kreuzberger Straßenverkehrs: Cargo Sofia – Berlin bittet die Zuschauer nicht in den Theaterraum, sondern verlädt sie auf einen Lastwagen und nimmt sie mit auf eine faszinierende Parallelreise. In vier Tagen lenken die LKW-Fahrer Ventzislav Borissov und Svetoslav Michev ihre Fracht von Sofia über Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien und der Schweiz nach Berlin. Die Zuschauer erleben zwei Stunden Fahrt durch Berliner Transiträume vorbei an Verkehrsschildern, Parkplätzen, Lagerhallen, Umschlagplätzen, Autobahnauf- und abfahrten: Kilometer des Übergangs, Niemandsorte.

Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) hat einen LKW mit drei Zuschauertribünen konzipiert, in dem das Publikum aus dem Innenraum des Containers abwechselnd auf eine Leinwand und somit auf die europäischen Übergangszonen oder durch die verglaste Seitenwand des LKWs auf die Berliner Durchgangsstationen schaut. Verbindendes Element ist die leiernde Balkanmusik, die durch die Lautsprecher dröhnt und die Zuschauer an andere Orte versetzt. Der Blick konzentriert sich auf das improvisierte Unterwegssein der Trucker, auf vorbeirollende Räume im Dazwischen, auf alltäglich und lokal gelebte Mobilität. Die Experten des transitären Alltags haben das Wort: Die Lastwagenfahrer erzählen Geschichten vom informellen Handel an den Grenzen, erklären ihre provisorischen Schlaf-und Eßgewohnheiten, machen ihre kräftezehrenden Arbeitsbedingungen hautnah erlebbar, vergleichen die Benzinpreise aus ganz Europa, stellen ihre Familie anhand der mitgebrachten Fotos vor und berichten vom Tauschwert eines Playboy: 800 Liter Diesel.

Die europäischen Grenzen inszeniert Stefan Kaegi als vorübergehende Entschleunigung, als Orte des Verweilens. Die Grenze Bulgarien-Serbien ist in der Berliner Wirklichkeit der Flughafen Tempelhof, der Weg von Kroatien nach Slowenien führt über den Berliner Großmarkt, in der Waschanlage eines Speditionsunternehmens erlebt das Publikum den Übergang von Slowenien nach Italien und zwischen endlos in die Höhe gestapelten Containern auf dem Westhafen erklingt die Stimme des Fahrers: „Welcome to Switzerland". Der Zuschauer erlebt auf dieser Lastwagenfahrt europäische Realität, denn längst haben sich die früher als Linie organisierten Staatsgrenzen verräumlicht. Diese Räume sind Umschlagplätze der Transithändler, Stationen von Bewegungen, Wartezonen der Just-in-time-Logistik. Diese Orte sind nicht durch ihre Bewohner geprägt, sondern durch die Praktiken, Strategien und den alltäglichen Gebrauch des Transits. Es entstehen engverknüpfte Mikrogeografien, die hier und überall sonst auf der Welt sein könnten.

Rimini Protokoll wagt sich an diese Nicht-Orte, entwirft neue Bilderwelten, Vorstellungen des Transitären und schafft Einblicke in die Welt der Logistik. Sie erschaffen Orte, indem sie sie durchqueren, bespielen und erlebbar machen. Die Perspektive des Zuschauers verdreht sich, er schaut nicht mehr aus dem Blickwinkel des Seßhaften, sondern befindet sich „on the road". Scheinbar mühelos überquert die Reisegruppe sechs verschiedene Grenzen, und doch erweist sich der Glaube an eine ungehinderte Bewegung als Illusion: Die Städte haben die Trucker noch nie gesehen.

Auf der mobilen Theaterreise gibt es allerdings beeindruckende städtische Momente. Wenn auf der Mittelinsel des Jakob-Kaiser-Platzes einsam eine Frau mit Akkordeon Lieder vom Reisen, Aufbrechen, Weggehen, Unterwegssein und der Sehnsucht singt, scheint diese Szene so irreal und weit entfernt vom Trukkeralltag, daß sie nur hier sein kann, mitten in Berlin zwischen wehenden WM-Fahnen. Die Schauspielerin taucht immer wieder am Wegesrand auf, zwischen Häuserfronten und Asphaltmeer, Containerterminals und Brücken transportiert sie geschickt auf ihrem Fahrrad einen Stapel Kartons und schließt den Abend mit den Liedzeilen: „Berlin, meine Sonne, du bist die Stadt meiner Wahl." Dafür gibt es zwischen dem rollenden Verkehr am Halleschen Ufer Schnaps und Applaus.

Fanti Baum

Rimini Protokoll: „Cargo Sofia – Berlin. Eine bulgarische LKW-Fahrt durch europäische Städte". Vom 5. bis 10. März und vom 12. bis 17.März, jeweils um 19.30 Uhr im HAU 2, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg.

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