Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Landschaften der Verzweiflung

Eine Neuköllner Galerie zeigt Fotos von schrumpfenden Städten in Ost und West

Foto: Ines Borchart

Tote Briefkästen in nahezu unbewohnten Plattenbauten, stillgelegte Fördertürme, Schaufelradbagger und Kinder, die vor leeren Einkaufszentren die Zeit totschlagen – typische Details schrumpfender Städte in Ost und West.

Die Berliner Fotografinnen Ines Borchart und Tanja Schnitzler besuchten zwischen 2003 und 2005 die ehemaligen Kohlemetropolen Hoyerswerda und Gelsenkirchen. Auf ihren Streifzügen durch die heute bedeutungslosen Orte, die seinerzeit gezielt für die Kohleindustrie errichtet wurden, entstanden Bilder von aussterbenden Stadtlandschaften und beklemmende Porträts dort verbliebener Menschen.

Die schrumpfenden Ortschaften faszinierten die Fotografinnen. Mit dem Verschwinden der Montanindustrie verloren beide Städte ihren urbanen Charakter. Junge Menschen wanderten ab, die alten blieben zurück. Die Bevölkerungszahl beider Orte sank innerhalb von zehn Jahren um etwa die Hälfte. Gelsenkirchen, mit einer Arbeitslosenquote von 16 Prozent, werde oft als westdeutsches Pendant zu Hoyerswerda betrachtet, meint Tanja Schnitzler. Doch während Landschaftsarchitekten rings um Gelsenkirchen stillgelegte Zechen in industrieromantische Landschaftsparks umgestalteten, wichen die leeren Plattenbauten in Hoyerswerda der grünen Wiese. „Um des Strukturwandels Herr zu werden, haben Stadtplaner nach der Wende angefangen, alles am Stadtrand abzurei-ßen", berichtet Borchart. Das Phänomen der schrumpfenden Stadt sei in Gelsenkirchen jedoch aufgrund der zergliederten Infrastruktur weniger offensichtlich. Die Ortsteile der weitläufigen Stadt seien durch Schnellstraßen zerteilt, und soziale Probleme würden hinter kleinbürgerlichen Fassaden verschwinden, meint die Fotografin.

Als „Landschaften der Verzweiflung" bezeichnet Borchart die einstigen Kohlemetropolen. Ein menschenwürdiges, bürgerliches Leben sei in beiden Orten zwar grundsätzlich möglich, jedoch stünden die einstigen Motoren beider Städte längst still. Nach verwahrlosten Slums würde man aber vergeblich suchen. Besonders in Hoyerswerda versuche man, so Borchart, der unklaren Zukunft mit übertriebener Ordnung und Sauberkeit zu begegnen. Von ABM-Kräften sorgsam gepflegte Straßenzüge und Parkanlagen seien deutliche Indikatoren dafür. Während Gelsenkirchen die eigene Vergangenheit bereits sichtbar aufgearbeitet und sich als „Stadt der alternativen Energien" schon neu orientiere, hätte Hoyerswerda gar keine Perspektive für die Zukunft. In der DDR habe man nie berücksichtigt, daß der Motor der Stadt, die Braunkohleindustrie, einmal ausfallen könnte, faßt Borchart zusammen.

Die Stadt mit der höchsten Selbstmordrate in der DDR war Hoyerswerda. Das fanden die Fotografinnen bei ihren Recherchen heraus. Heute würden sich die Menschen zwar nicht gleich umbringen, aber sofort die Flucht ergreifen, sobald sie einen Schulabschluß in der Tasche hätten. Ausschlaggebend für Borcharts und Schnitzlers Fotoessay zur ehemaligen sozialistischen Planstadt Hoyerswerda und ihrem westdeutschen Gegenstück Gelsenkirchen sei Brigitte Reimanns zu DDR-Zeiten zensierter und nur in limitierter Auflage erschienener Roman Franziska Linkerhand gewesen. „Das Buch handelt von einer jungen Architektin, die mit großen Idealen nach Hoyerswerda kommt, ihre Vorstellungen von humaner Architektur nicht umsetzen kann und letztendlich daran zerbricht", erzählt Ines Borchart.

„In Hoyerswerda sollte alles den Arbeitsfluß optimieren." Damals seien Menschen an Idealfiguren gemessen worden, so die Fotografin. Für Individualität und Weiterentwicklung sei in der Planstadt kein Platz gewesen.

Die Bilder der Fotografinnen reflektieren die beklemmenden Lebensumstände in einer ostdeutschen und einer westdeutschen Kohlestadt. Den Motiven begegneten Borchart und Schnitzler durch „kalkulierte Zufälle" bei ihren Streifzügen durch beide Städte. „Das sind alles Bilder, die mir passiert sind," sagt Borchart. Die Fotografinnen lernten in Hoyerswerda viele Menschen kennen, die in Vereinen Zuflucht vor der Einsamkeit und Tristesse der schrumpfenden Stadt suchen. Sie fanden ein Computermuseum, eine Katzenmission, Seniorentreffs, aber auch linke Jugendklubs.

Das Thema „Rechtsradikalismus" haben Borchart und Schnitzler bewußt ausgeklammert. Wenn man diese Folie über den Ort legen würde, könnte man die anderen Facetten nicht mehr sehen, glaubt Ines Borchart. „Es gibt daneben so viele andere Themen, die deutlicher zeigen, was es bedeutet, dort Mensch zu sein," sagt sie.

Die Fotografinnen fühlen sich der dokumentarischen Autorenfotografie verpflichtet. Ihre Bilder leben vom behutsamen und distanzierten Blick auf beide Orte. Während Ines Borchart eher Stadtlandschaften in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rückt, richtet Tanja Schnitzler ihren Schwerpunkt eher auf Nahaufnahmen von einfachen Menschen vor Ort.

Jens Steiner

Die Ausstellung „Identität" von Ines Borchart und Tanja Schnitzler ist noch bis zum 25. März im Kunstraum t27, Thomasstraße 27, Neukölln, zu sehen. Geöffnet Mi bis So von 15 bis 19 Uhr. www.kunstraumt27.de

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