Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1907

1. bis 28. März

Foto: Archiv Hennig

Herrliche Vorfrühlingstage stellen sich ab dem 3. März ein, der Himmel lacht in wolkenloser Bläue, es weht ein schwacher Ostwind, und die Sonnenstrahlen entfalten bereits eine recht energische Wirkung, die sich insbesondere in dem Hervorbrechen der ersten grünen Knospen äußert. Ein barometrisches Hochdruckgebiet von großer Ausdehnung bedeckt den größten Teil von Europa mit einem 775 mm übersteigenden Kern über Norddeutschland, Jütland und Südschweden.

Der sechsjährige Knabe Max Krause aus der Lutherstraße 13 spielt mit einigen Kameraden auf dem Bürgersteig an der Ecke Bayreuther- und Kleiststraße, als plötzlich, bevor die Schar sich in Sicherheit bringen kann, ein Automobil auf sie zurast, dessen Führer die Gewalt über die Steuerung verloren hat. Er überfährt und tötet den Knaben. Zeugen des traurigen Vorganges, die sich des von dem Kraftwagen zu Boden gerissenen Kindes hilfreich annehmen wollen, finden, daß es infolge eines Schädelbruches sein junges Leben hat lassen müssen. Auch ein zweites Kind wird bei dem Vorfall leicht verletzt. Nach Aussagen der Zeugen soll den Chauffeur keine unmittelbare Schuld treffen.

Die Bewegung des Gesundbetens in Berlin ist im Rückgang begriffen. Es waren hier zuerst zwei Richtungen vertreten, zum einen die sogenannte „Erste Kirche des Scientisten", die sich von der Mutterkirche in Amerika ressortiert, mit der sie in enger Verbindung steht. Sie ist die vornehmere der beiden Sekten und stellt erhebliche Ansprüche an den Geldbeutel der Mitglieder. Wie alles in dieser Welt, ist auch das Gesundbeten teuer und kostet eine Menge Mammon. Die nach amerikanischen Verhältnissen zugeschnittenen Gebete sind aber besonders kostspielig und vornehmlich für die oberen Zehntausend berechnet. Diese Gebetsübungen spielen sich daher zumeist in privaten Konventikeln ab und sind nur geeigneten, gut empfohlenen und zahlungskräftigen Patienten zugänglich. Die zweite Richtung, die „deutsche", hat sich von dem unmittelbaren Einfluß der Mutterkirche freigemacht. Sie tritt nach außenhin ohne vornehme Prätentionen auf, berücksichtigt auch die weniger bemittelten Klassen und hat einen Stich in das Volkstümliche angenommen.

In Berlin, der Metropolis der Intelligenz, muß freilich das Gebaren doppelt befremden. Schauplatz der übermächtigen Gebetsübungen ist ein Lokal in der Alten Jakobstraße, richtiger ein Fabrikraum im Quergebäude. Die Gemeinde, die sich neuerdings gespalten hat, verehrte ursprünglich den scientistischen Chikagoer Pastor Dowen als ihr Oberhaupt, der auch in Berlin eine förmliche Inspektion über seine Schäflein abgehalten hat. Als jedoch sein Stern in Amerika im Erbleichen war, traten hier Spaltungen auf, und eine große Anzahl Mitglieder fand die Gebetsübungen nicht mehr beweiskräftig. Augenblicklich dürfte die Gemeinde, die jeden Sonnabend abend ihre erbaulichen Exerzitien abhält, 100 Mitglieder zählen, doch erscheint neuerdings nur ein ganz geringer Prozentsatz zu den Verhandlungen. Allerdings kommen die Gläubigen mit Kind und Kegel, und namentlich mit kranken Kindern, die nicht gehen und stehen können und durch das Gebet geheilt werden sollen. Alles das geschieht in dem aufgeklärten Berlin und nicht etwa in einem von dem großen Verkehr abgeschnittenen Dorf. Von wunderbaren Heilungen ist freilich noch keine Kunde zu denjenigen gedrungen, die außerhalb des Kreises leben, aber Gelegenheit haben, das Treiben zu beobachten. Hingegen scheint der mystischen Verbindung selbst das Dauergebet nicht gut angeschlagen zu sein. Das Betlokal ist nämlich vom Vorstand zum 1. April des Jahres gekündigt worden. Das weitere Schicksal der Gemeinde, die sich wohl auflösen dürfte, ist bisher noch in Dunkel gehüllt.

Das Kaiserliche Postanweisungsamt zieht am 5. März von seinen alten Diensträumen in der Königgrätzer Straße 20 um in das neue reichseigene Posthaus Dorotheenstraße 23-24. Dem Postanweisungsamt stehen dort 40 Räume zur Verfügung. Während der Postanweisungsverkehr innerhalb des Deutschen Reiches zwischen den einzelnen Ober-Postdirektionen abgerechnet wird, dient das Postanweisungsamt seit 20 Jahren lediglich zur Verrechnung des Postanweisungsverkehrs mit den fremden Ländern. Die 65 Beamten und Unterbeamten, darunter acht Damen, benutzen zur Aufstellung der Abrechnungslisten insgesamt 24 Rechenmaschinen amerikanischen Ursprungs.

Falko Hennig

ENächste Veranstaltung von Falko Hennig am Mittwoch, 14. März, 20.30 Uhr im Kaffee Burger, Torstraße 60, Mitte: „Rap und Apocalypse" mit

Florian Werner, weiteres unter www.Falko-Hennig.de

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