Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Marktwirtschaft ohne Kapitalismus?

Die Freigeldtheorie leidet unter ihren Annahmen

Wo mit Regionalgeld experimentiert wird, sind sie nicht weit: die Anhänger der Freigeldtheorie Silvio Gesells, die sich eine „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" wünschen. Was Marxisten das Eigentum an den Produktionsmitteln ist oder Naturgesetzlern die Harmonie des Gesellschaftsbewußtseins, nämlich der Dreh- und Angelpunkt des guten oder schlechten Lebens, ist den Gesellianern die gesellschaftliche Belastung durch den Zins.

Jedes Geldvermögen ­ so die Freiwirtschaftler ­ werde in einer kapitalistischen Marktwirtschaft am Kapitalmarkt angeboten, um Zinsen zu erzielen und sich derart zu vermehren. Auf diesem Wege würden die Vermögen exponentiell anwachsen und einen immer größeren Anteil des höchstens linear zunehmenden gesellschaftlichen Einkommens in Form von Zins und Zinseszins aneignen. Schließlich komme ein solches System an einen Punkt, an dem die „Zinslast" die gesellschaftliche Produktivität erdrücke. Dramatische Wirtschaftskrisen kämen also zu der ohnehin immer extremer werdenden Ungleichverteilung des Wohlstands hinzu.

Aber glücklicherweise kennen Freiwirte eine Lösung des Problems, die sie z.B. im Vorfeld der Berliner Abgeordnetenhauswahl mittels ihrer erstmals angetretenen „Humanwirtschaftspartei" verkündeten: Statt die Produktionsmittel in Arbeiterhand zu überführen oder transzendental meditierend Harmonie zu erzeugen, soll der Zins mittels einer das Geldvermögen betreffenden „Umlaufsicherung" auf Null gedrückt werden. Ungebundenes Geld werde mit dieser steuerähnlichen Abgabe belastet ­ daher der Ausdruck „Schwundgeld" ­ so daß es gewinnbringend investiert werden müsse, um seinen Wert zumindest zu erhalten. Es würden weiterhin Zinsen erzielt, doch glichen sich diese mit der Umlaufsicherungsabgabe aus, so daß die Geldvermögen nicht weiter anwachsen könnten.

Das Tolle an dieser „Befreiung des Geldes" vom Zinseszins sei jedoch, daß damit auch Konjunkturschwankungen, Arbeitslosigkeit und sinkende Kaufkraft des Geldes passé wären, da die Marktwirtschaft nun endlich reibungslos funktioniere. Letztendlich würden die Löhne steigen und die soziale Ungleichheit schrumpfen.

Spätestens an dieser Stelle könnte man ob der sich angeblich in Luft auflösenden gesellschaftlichen Probleme skeptisch werden. Hat sich da vielleicht jemand eine etwas einfache Interpretation der Welt(wirtschaft) zurechtgebastelt, die demzufolge zu entsprechend einfachen Lösungen führt? Bereits die oben genannte Herleitung der „Zinslast" sollte hellhörig gemacht haben: Denn wie kann ein dramatisch wachsendes Geldvermögen fortwährend gleichbleibende Zinshöhen diktieren, wenn das Sozialprodukt nicht im gleichen Maße zunimmt, also die Nachfrage nach investiven Krediten mit der angebotenen Geldmenge kaum mithalten dürfte? Freiwirte begründen dieses Phänomen mit der Möglichkeit, Geld zurück- und somit künstlich knapp zu halten, da das Geld nicht roste. Erst die Umlaufsicherung zwinge zur Freigabe des Geldes und den Marktgesetzen entsprechenden sinkenden Zinsen.

Doch wenn die Zinshöhe durch Zurückhaltung von Geld garantiert wird, wie können daraus stetig zunehmende Zinserträge resultieren? Letztendlich können Zinsen nämlich nur durch profitable Investition erwirtschaftet werden. Die heutigen Zinshöhen resultieren also schlicht und einfach aus dem Umstand, daß im derzeitigen Stadium der globalisierten Wirtschaft ebensolche Profitraten tatsächlich erzielt werden können. Dabei werden weniger profitable Betriebe und Wirtschaftszweige derart unter Druck gesetzt, vergleichbare Gewinnmargen zu erwirtschaften, daß in den wohlhabenden Ländern die sozialen Ausgleichssysteme massiv in Rechtfertigungsnöte geraten und zunehmend preisgegeben werden. Kein Wunder also, daß es demzufolge zu einer Umverteilung von unten nach oben kommt.

Ob dieser Effekt jedoch durch eine Reform des Geldsystems beseitigt werden kann, dürfte zu bezweifeln sein. Oder, wie es der marxistische Politikwissenschaftler Elmar Altvater ausdrückt: „Wer meint, den Zins abschaffen zu können, ohne den Kapitalismus abzuschaffen, irrt sich gewaltig." Nichtsdestotrotz lohnt es sich, die Thesen der Freiwirtschaftler zu durchdenken, denn in ihrer Diskussion können liberal wie marxistisch geprägte Ansätze durchaus überprüft und um bisher unterbelichtete Aspekte bereichert werden.

Tobias Höpner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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