Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

So viel kleiner als Neukölln

Eine musikalische Nicht-Hommage an Rüsselsheim

Zum Lachen ist Rüsselsheim nicht. Auch wenn der Name des Städtchens am Untermain betreffende Muskeln zu stimulieren vermag – so wird es dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchester gegangen sein, das ihn im Titel seiner CD führt. Nein, Rüsselsheim ist nicht zum Lachen, und eins der wenig positiven Dinge, die man über die Stadt erzählen kann, ist, daß man sehr gut wegkommt: über die vier Autobahnanschlußstellen oder mit der S-Bahn zum Rhein-Main-Airport und nach Frankfurt oder, in die andere Richtung, nach Mainz und Wiesbaden. Oder nach Darmstadt, aber da ist man aufs Auto angewiesen, weil man ansonsten mühsam in Bischofsheim umsteigen müßte, und wer will das schon.

Der Autor dieser Zeilen wuchs im Igelweg auf, und in der Hasengrundschule begann der Ernst seines Lebens. Die Umgebung prägte ihn. Der Igelweg ist eine beschauliche, ruhige und verkehrsarme Straße, in der die Eltern ihren Zögling ohne Sorgen herumstromern lassen konnten. Er konnte dann unbedenklich den nahen Garten des Stadtkrankenhauses erkunden, der erst später durch häßliche Neubauten so klein wurde, daß er keine Reize mehr zum Kicken oder für Abenteuerspiele bot. Aber er war irgendwann ohnehin zu alt für derartige Vergnügungen. Lieber zog er sich mit Freunden in die Stadtbücherei zurück, wo er die Bibliothekarinnen erst durch ungebührliche Lautstärke, später manchmal durch pure Präsenz provozierte und sich mahnende Worte einhandelte. Später mied er die Konfrontation, denn er fand vor allem in Mainz ein Betätigungsfeld, weil dort Disko, Kino und überhaupt eine weniger beengende Atmosphäre lockten als in seiner Vaterstadt. Es war die Gewißheit, selten auf Bekannte zu treffen, die die große Stadt attraktiv machte, und bald nach dem Abitur flüchtete er nach Berlin.

Nicht, daß Rüsselsheim kulturell nichts zu bieten hätte. Aus irgendeinem Grund bringt die Stadt ein erstaunlich agiles künstlerisches Potential hervor, das einfach nicht weg will und im Verein mit einer kulturbeflissenen „Elite" dafür sorgt, daß es an Kunststätten und Aktionen nicht mangelt. So stellte Rüsselsheim bis vor kurzem jeden Sommer ein beeindruckendes, hochklassiges Kulturprogramm auf, das den Vergleich mit denen der großen Städte der Nachbarschaft nicht zu scheuen brauchte ­ und von den Rüsselsheimern nicht wirklich gewürdigt wurde. Auch das überdimensionierte Stadttheater hat es schwer, sich zu behaupten. Kleinkunst findet ihr Publikum, doch wer sich ernsthaft für die darstellende Kunst interessiert, fährt nach Mainz, Frankfurt oder Darmstadt.

Auch gibt es wirklich schöne Orte. Zunächst die ruhigen Wohngebiete wie Hasengrund, Rübgrund oder Böllenseesiedlung mit ihren Ein- und Zweifamilienbungalows. Wer etwas Entspannung außer Haus sucht, der kann ­ immer vom Igelweg aus gesehen ­ im Rehpfad oder in der benachbarten Friedrich-Ebert-Siedlung spazierengehen. Oder im Ostpark, am Mainufer, rund um die Festung oder im Stadtpark mit der Ruine aus romantischer Epoche. Und wer größeren Auslaufbedarf hat, fährt einfach nach Mönchbruch, an den Altrhein bei Astheim oder in den Rheingau.

Doch wer in Rüsselsheim etwas besorgen muß, muß „in die Stadt" gehen, also ins Zentrum, das in einem Ort von 60000 Einwohnern und ohne nennenswertes Umland ziemlich klein ausfällt (Rüsselsheim ist Umland, nämlich von Frankfurt, Mainz, Darmstadt und Wiesbaden). Und diese Innenstadt ist so ziemlich frei von jedem Charme, kriegszerstört und wieder aufgebaut im Geist der Brutalo-Moderne, mit einer Fußgängerzone, in der die letzten Familienbetriebe mit der Zeit sehr verloren wirkten inmitten sattsam bekannter Filialisten. Deshalb fährt, wer in Rüsselsheim wohnt, etwas auf sich hält und einen gewissen Sinn für Ästhetik hat, für alle Besorgungen, die über das Lebensnotwendige hinausgehen, lieber in die großen Nachbarstädte.

Unter anderem deshalb sind alle Bemühungen, den Niedergang der Stadt aufzuhalten, zum Scheitern verurteilt. Sie wird von Jahr zu Jahr trister. Wer Geld hat, kann dort gut wohnen ­ zumindest in den beschriebenen Siedlungen, nicht aber in Stadtteilen wie dem Dicken Busch, der zwar keine no-go-area ist, aber den man meidet. Ansonsten hält man sich lieber an die großen Zentren, wo es schön und gepflegt ist und wo das Geld ausgegeben werden kann, das man dort verdient hat.

Von der Stadtstruktur her sieht Rüsselsheim ungefähr so aus wie Neukölln, das bekanntermaßen nicht allein aus der Altstadt besteht, sondern zu dem auch das bürgerliche Britz gehört. Der Blues, der sich in Rüsselsheim einstellt, entsteht also nicht durch den Anblick von Armut und Verfall, was beides immer offener zu Tage tritt, oder dem Rückzug der Wohlhabenden in ihre Viertel. Es ist vielmehr so, daß sich der Prozeß der Segregation in einer überschaubaren Einheit abspielt, die so viel kleiner ist als Neukölln. Es sind dieselben Probleme, nur viel schärfer konturiert, sie fallen viel deutlicher ins Auge. Ein Fußmarsch von wenigen Minuten genügt, um von der einen Welt in die andere zu gelangen.

Was das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester mit seinem Album vorgelegt hat, spottet jeder Beschreibung: Es präsentiert ein gutes Dutzend der unsterblichen Melodien des kollektiven Weltgedächtnisses, von der Titelmelodie des Drogendramas The Man With The Golden Arm (Regie: Otto Preminger, mit Frank Sinatra) über „Somewhere over the Rainbow" bis zu Beethovens Fünfter. Da man aber mit Nasenflöten, deren Existenz verbürgt ist, kaum einen geraden Ton herausbringt, klingt das alles reichlich schräg. Aber man erkennt sie dennoch wieder, die Welt-Hits, und man merkt, daß da keine musikalischen Laien am Werke sind; die Dynamik ist subtil. Damit wird Stille Tage in Rüsselsheim zu einer sehr wohlwollenden und respektvollen Hommage an Melodien, die dank ihrer weiten Verbreitung gleichsam in Schönheit sterben mußten. Und sie ist herrlich komisch, so ganz anders als Rüsselsheim.

Benno Kirsch

Das Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester: Der Grindchor – Stille Tage in Rüsselsheim. Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2002. 8,99 Euro.

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