Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wohnkosten senken

Was ist aus den Hartz-IV-„Zwangsumzügen" geworden?

Der Protestfilm der „Kampagne gegen Zwangsumzüge" mutet dramatisch an: Eine ALG-II-Empfängerin erhält einen Brief vom JobCenter. Darin die Aufforderung, ihre Wohnkosten zu senken, sprich: sich eine neue Wohnung zu suchen. Die Frau: am Boden zerstört, der Umzugswagen bereits vor der Haustür. Doch die Rettung naht: Ein Anruf beim Notruftelefon der Kampagne, und schon hindert eine Menschenmenge die eifrigen Umzugsarbeiter daran, der Frau die Wohnung zu rauben.

Sicher ist der Film bloß ein kleiner Werbespot, der einen Sachverhalt zuspitzt. Dennoch entsprach er März letzten Jahres der allgemeinen Stimmungslage in der Stadt. 360 Euro Bruttowarmmiete war die Stadt Berlin bereit, für einen Ein-Personen-Haushalt zu bezahlen. Eine durchaus knapp bemessene Obergrenze, und so wurden schnell Befürchtungen laut, vielen ALG-II-Empfängern drohe ein „Zwangsumzug" in eine günstigere Wohnung. Verschiedene Zahlen kursierten. Die Berliner Morgenpost machte die Schätzung für das gesamte Bundesgebiet zur Schätzung für Berlin und sprach von 300000 bis 500000 Umzügen. Der Mieterbund brachte die Zahl von 100000 Umzügen in Umlauf, und der Stadtforscher Sigmar Gude ging von 50000 bis 70000 Umzügen aus.

Aus dem Kreis der Hartz-IV-Gegner wurde deshalb die „Kampagne gegen Zwangsumzüge" ins Leben gerufen. Mit Flugzetteln, Aufklebern und einem Kinospot machte sie ihre Forderungen bekannt. Das wichtigste Mittel im Kampf gegen „Zwangsumzüge" sollte dabei ein kostenloses Info-Telefon sein.

Inzwischen ist es ruhig geworden um die Zwangsumzüge und ihre Gegenkampagne. Was ist daraus geworden? Gab es die befürchteten Zwangsräumungen? Oder war die Aufregung schlicht umsonst? Roswitha Steinbrenner, Pressesprecherin der Senatssozialverwaltung, berichtet, im Jahr 2006 sei es lediglich in 370 Fällen zu einem Wohnungswechsel aufgrund zu hoher Unterbringungskosten gekommen. Die Aufregung um die vermeintlichen Zwangsumzüge sei völlig überzogen. Man sei in der Behandlung der Angelegenheit so gerecht wie möglich vorgegangen.

Auch der Stadtforscher und Soziologe Sigmar Gude beschwichtigt zunächst. Es seien viel weniger Personen zur Senkung der Wohnkosten aufgefordert worden als erwartet. Wie viele dann tatsächlich die Wohnung wechseln mußten, weiß jedoch auch er nicht. Und wie groß die Dunkelziffer der in vorauseilendem Gehorsam umgezogenen Menschen ist, ohne sich dabei auf einen Streit mit dem JobCenter einzulassen, wagt er nicht zu schätzen. Gude spricht auch von Fällen, in denen Menschen zum Beispiel ihre zu teure Wohnung aus eigener Tasche bezahlen oder eine Regelung mit dem Vermieter oder der Wohnungsbaugenossenschaft gefunden haben.

Ralf Engelke von der „Kampagne gegen Zwangsumzüge" kann die Tendenz bestätigen. Seit Freischaltung der Nummer im März 2006 hätten 1000 Betroffene angerufen, erzählt er. Dabei habe das Telefon weniger als Notfallnummer bei drohenden Umzügen gedient denn zur allgemeinen Beratung. Schließlich sei die Informationslage rund um Hartz IV generell katastrophal. Engelke berichtet, daß viele Mieter mit dem Hinweis auf die Ausnahmeregelungen des JobCenters einen Wohnungswechsel abwenden konnten. Auch habe auf Druck der Kampagne eine „Wirtschaftlichkeitsrechnung" von Seiten des JobCenters eingeführt werden können. Dabei werde von einer Umzugsaufforderung abgesehen, wenn die Kosten für einen Umzug höher seien als die Ersparnis, die eine günstigere Wohnung bringen würde.

Eine Entwarnung also? Engelke verneint. Das Engagement der Kampagne werde weiterhin benötigt, weil die JobCenter auch künftig Aufforderungen zur Senkung der Wohnungskosten versenden würden. Und weiterhin sei nur wenigen Betroffenen bewußt, wie sie sich wehren könnten.

Marco Gütle

www.gegen-zwangsumzuege.de

Info-Telefon der Kampagne: 0800/2727278 (Montag bis Freitag
10 bis13 Uhr)

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