Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Bedrohliche Parallelgesellschaften?

Junge Zuziehende bringen Nord-Neukölln in Bewegung

Auf der Suche nach bezahlbarem Wohn- und Arbeitsraum ziehen zunehmend Studenten und Künstler ins nördliche Neukölln. Neben Galerien und Kneipen entstehen dort im Kiez um die Reuterstraße neue soziopolitische Treffpunkte wie der Friedel54-Laden. Dieser veranstaltete im Dezember eine Diskussionsveranstaltung zur beobachteten Entwicklung. Etablieren weiße deutsche Mittelschichtkinder eine „Parallelgesellschaft" im Kiez? Befindet sich Neukölln in einem Kiezaufwertungsprozeß, wie er in den Neunzigern in Prenzlauer Berg zu Mietsteigerungen und Verdrängung geführt hat?

Immenser Andrang, vor allem junge, aus Westdeutschland stammende Studenten, auch ein paar ältere Akademiker sind da, die den Kiez schon länger kennen und sich zu ihrer westdeutschen Herkunft bekennen. Dagegen kaum eingeborene Berliner. Zirka zwanzig Interessierte können an der Diskussion nicht teilnehmen; der Raum des ehemaligen Fotogeschäfts bietet einfach nicht genug Platz. Vor über einem Jahr eröffneten die Betreiber ihren Laden in der Friedelstraße und beobachteten seither den schleichenden Wandel, dessen Teil sie sind. Nun luden sie den Experten Andrej Holm ein. Der Stadtsoziologe hat den klassischen Gentrifizierungsprozeß, den sozialen Umstrukturierungsprozeß in Prenzlauer Berg persönlich miterlebt und akademisch begleitet.

Dort charakterisierte in der Nachwendezeit eine relativ niedrige Wohnqualität und vor allem niedrige Mieten den Ostbezirk. Kreative und Studenten nutzten die vernachlässigten Bauten und schufen ein positives Image des Kiezes. Als Pioniere „aktivierten" sie das Viertel, bildeten eine Szene und bereiteten es so auf die Verwertung vor. Die bauliche Aufwertung der Wohnsubstanz hatte eine ökonomische Aufwertung zur Folge. Nach der Sanierung zog die Kommerzkultur ein, vereinzelt mauserten sich subkulturelle Künstler zu renommierten Galeristen. Die neu Zugezogenen, die es sich leisten konnten, erkauften sich den neuen guten Ruf. Die steigenden Mieten konnten sich bestimmte Bevölkerungsschichten nicht mehr leisten. Die Sozialstruktur veränderte sich hin zu einem erheblichen Austausch der Bevölkerung. Die Eingeborenen nehmen es mit Ironie und grüßen auf Dutzenden Plakaten in der Vorweihnachtszeit: „Ostberlin wünscht Dir eine gute Heimfahrt! Weihnachten 2006."

In ähnlicher Weise erging es Kreuzberg in den Achtzigern, Mitte in den Neunzigern und zuletzt Friedrichshain. „Möge der Kelch an Neukölln vorbeigehen", schließt Holm seine Erläuterungen und läßt die Anwesenden resümieren. „Neukölln war, ist und bleibt ein Sumpf", sagt eine Anwohnerin, die sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, eine trendige Szene oder gar Wohlhabende könnten in dem von Armut und rassistischer Stigmatisierung geprägten Stadtteil leben wollen. Viele, die es sich leisten können, ziehen weg. Auch Migrantenfamilien.

Interessanterweise sehen sich die Anwesenden, junge, westdeutsche Studenten, nicht als Gentrifizierungsopfer, die keinen bezahlbaren Wohnraum in den Innenstadtbezirken finden. Stattdessen machen sie sich Vorwürfe, Schuld zu tragen an einer möglichen Verdrängung im Reuterkiez, sollten sie ihrem Bedürfnis nach Milchschaum, Sushi- und Cocktailbars nachgeben. Werden dann die türkischen Läden verdrängt?

Da machen sie sich wohl zu viele Sorgen. Obwohl die Bodenrichtwerte im Reuterkiez – wie in ganz Berlin – gesunken sind, steigen zwar die Mietpreise. Doch von einer klassischen Gentrifizierung kann im Reuterkiez keine Rede sein. Anders als in Prenzlauer Berg gibt es in Neukölln Einzeleigentümer, die auch im Kiez beheimatet sind. Sie haben weder das Geld noch das vorrangige Interesse, massive Modernisierungen voranzutreiben. Auch auf Bezirksebene gibt es keine anstehenden Strukturmaßnahmen für das Viertel. Studenten ziehen seit jeher gerne nach Neukölln. Und auch wieder weg. Der Bezirk würde sich verändern, falls diese Studenten wider Erwarten auch mit dem Berufseinstieg und Familiengründung in Neukölln blieben und ihre Nachbarschaft mitgestalten würden.

Sonja John

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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