Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Es ist ein Kreuz

Hier oben stehen sie, die beiden, am JAHRESANFANG, hier, am Ostkreuz im Ostwind, die armen Arme umeinander geschlungen, weil es so weht, als sollten sie davonfliegen als LIEBESPAAR von Chagall, hinweg über die Friedrichshainer Bierflaschenflaneure, und am 31. Dezember 2006 – also verdammt lang her – scheppern die Flaschen nur so auf dem Pflaster, liegt all der Pech- und Schwefelrauch in der Luft, der nun mal dazugehört zu dem Geknalle, böse Geister vertreiben und so. Sie schmiegen sich, als die S-Bahn Punkt 00.00 Uhr einläuft, noch enger aneinander, und Menschenkind drückt Ditte pragmatisch einen Kuß auf die Lippen, den gerade geäußerten Wunsch der Sponti-Frau wieder sanft mit einem Zungenkuß hinter die Zähne zurückschiebend. Natürlich will sie weiter, und er will bleiben, hier, am Ostkreuz, dem so manches blüht im neuen Jahr, über das sich alle Uniformierten aus dem HÄUSCHEN, die sich in den Armen liegen, so frenetisch freuen. „Du wirst einfach verschwinden, nicht mehr wiederzuerkennen sein, meine Liebe", murmelt Menschenkind, die Gefühlsregung mit einem Rundumschlag des rechten Armes ableitend, der nun Ditte frei gibt. Sie dreht sich wie ein Kreisel, hat schon den Fuß in der Tür, aber Menschenkind zieht sie zurück auf den Bahnsteig. „Menschenkind, das hätte schief gehen können", keucht diese, aber er schließt erneut ihre Lippen, um dann zu wiederholen: „Du wirst einfach verschwinden, nicht mehr wiederzuerkennen sein, meine Liebe." Der Anblick der Treppen, dieser von Milliarden hastenden Schritten ausgetretenen Stufen, rührt ihn derart, daß er den Satz noch einmal wiederholt. „Du wirst einfach verschwinden, nicht mehr wiederzuerkennen sein, meine Liebe." Ditte legt Menschenkind die Hand auf die Stirn, seine Temperatur überprüfend. „Warum sollte ich verschwinden, nicht mehr wiederzuerkennen sein? Du kannst mich immer wiedererkennen, du weißt schon, wie. Und wie kommst du bloß darauf? Soviel hast du doch gar nicht getrunken. Die zwei Schnäpse mit Fati, dem Dönerverkäufer, die können dir doch nicht derart die Birne erweicht haben, Menschenkind." Der packt die Ditte bei den Schultern, ein bißchen onkelhaft, rückt sie auf Abstand, macht mit dem linken Arm eine ähnlich ausschweifende Bewegung wie kurz zuvor mit dem rechten. „Versteh doch, Ditte, das ist meine Liebe in diesem Augenblick, Anfang 2007. Und du bist damit nicht gemeint. Was dich betrifft, das steht im Kapitel Ewigkeit unter dem Stichwort Allzumenschliches, und dort in der Unterabteilung Unverständliches."

In großen Sprüngen und dazu singend, weht eine Gruppe bunt gewandeter Farbiger jedweder Couleur über den unteren Bahnsteig, wo sich vor Jahren Menschenkind noch seine Karos kaufte. „Ich habe gleich gesagt, als die keine Karos mehr verkauft haben, hier ist was im Busche."

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

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