Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Weder Schwerter noch Pflugscharen

Anarcho-Primitivisten halten Technik für das Grundübel der Menschheit

Wer würde sich schon gerne „primitiv" nennen lassen, gilt der so benannte doch als geistig und seelisch unterentwickelt. Und doch gibt es Leute, die diesen Begriff frohgemut für sich verwenden. Anhänger der Bewegung des Anarcho-Primitivismus verbinden damit eine Ablehnung gegenüber dem Ursprung und Prozeß der Zivilisation. In ihrer Argumentation gehen die Anarcho-Primitivisten so weit zu behaupten, schon der Wandel von der Gesellschaft der Jäger und Sammler zur landwirtschaftlichen Subsistenz habe zu sozialer Ungleichheit, Zwang und Entfremdung geführt. Dementsprechend ist ihr Ziel eine nicht-zivilisierte Form des Lebens, die sie durch Deindustrialisation, die Aufhebung der Arbeitsteilung und die Verneinung jeglicher Technologie verwirklicht sehen wollen. Der primitive Mensch soll dabei zu seinem inneren Affen zurückfinden und ohne Privateigentum an Materie oder Person in freier Assoziation und offener Sexualität leben.

Schon ein Faustkeil oder Pfeil und Bogen stellen eine Art Technologie dar, nur eben die der Steinzeitmenschen. Wollte man sich keiner irgendwie gearteten Hilfsmittel bedienen, müßte man verhungern. Aber genau hier unterscheiden die Anarcho-Primitivisten zwischen Werkzeugen und Technologie, wobei ein Gegenstand, der zeitweise der unmittelbaren Umgebung entnommen wird, als Werkzeug angesehen wird. Zählen Faustkeil und Pfeil und Bogen dazu? Und wenn eine Gesellschaft der Jäger und Sammler das Ziel sein sollte, kann man heutzutage unter solchen Bedingungen leben? Schon die indigenen Kulturen der Andenregionen haben es schwer, in den Zeiten der immer weiter vordringenden Naturausbeutung durch den Kapitalismus ihren Lebensraum zu erhalten. Doch diesen Widerspruch tragen die Primitivisten, die auch Green Anarchist genannt werden, bereits seit längerem mit sich selber aus.

Andere Vertreter der grundsätzlichen Technikkritik, wie der „Unabomber" Theodore Kaczynski, sehen erst in der Industrialisierung den Beginn der heutigen sozialen Unterschiede. Die Industrialisierung wird dabei als Ursache der gesellschaftlichen Entfremdung betrachtet, deren Elemente die hohe Arbeitsteilung und die damit verbundene Entkopplung des Menschen von den Gesamtzusammenhängen der Natur sind. Einziges gesellschaftliches Ziel sei nunmehr die gnadenlose Ausbeutung der Menschen und der Natur im Namen des Fortschritts. Mit dieser Kritik stellen die Anarcho-Primitivisten auch die an die Technik gebundene Fortschrittsgläubigkeit in Frage. In ihrer Sicht ermöglicht die Industrie nicht einfach die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur, sondern erschafft neue Zwänge und damit auch neue Machtverhältnisse, vor allem beim Kampf um die knapper werdenden Ressourcen. Dies führe zu Umweltzerstörung und der Vertreibung ganzer Völker, denn dem Ziel der Durchtechnisierung werde alles geopfert. Die Technik sei dabei quasi zur neuen Religion erhoben worden und werde in Form neuer Götzen, wie dem Auto, massenmedial inszeniert.

Die Anarcho-Primitivisten lehnen auch die als Ergebnis der Industrialisierung angesehene Massengesellschaft mit ihren Staaten als Elementen der Hierarchie und Kontrolle ab. Statt dessen setzen sie auf völlig autonome Gesellschaften, die ihre Belange allein für sich klären, basierend auf einer zwanglosen, durch Neigung und Verbundenheit geführten Gemeinschaft. Konsequenterweise lehnen sie auch jede übergeordnete Organisationsstruktur mit Ideologien und abstrakten Ideen ab. Derartige Organisationsmodelle unterdrückten nur individuelle Bedürfnisse und Wünsche im Austausch für angebliche Notwendigkeiten des Kollektivs. Aber auch der Anarcho-Primitivismus hat seine Theoretiker, so zum Beispiel John Zerzan oder Derrick Jensen, die über möglichen Widerstand gegen das herrschende System und über Visionen für eine neue Welt philosophieren.

Nun kann man den Anarcho-Primitivisten zwar zustimmen, daß seit der Industrialisierung die Zerstörung der Natur massiv zugenommen hat und nach dem heutigen Stand der Dinge dies auch zur Zerstörung der Lebensgrundlagen des Menschen führen wird. Daß die Industrialisierung jedoch Ursache dieser Entwicklung sei, darf bezweifelt werden. Das wäre ungefähr so, als wollte man Computer für ihre Programme haftbar machen und nicht deren Produzenten, die Menschen. Will man den Ursachen der Umweltzerstörung auf die Spur kommen, muß man zuerst auf die die Gesellschaft bestimmenden Interessen schauen und dort ansetzen. Und diese Interessen sind eben geleitet vom Streben nach Reichtum und persönlichen Vorteilen. Genau darin liegen auch die Ursachen für die Zentralisierung der ökonomischen Mittel in wenigen Händen und die damit verbundenen Machtstrukturen. Zugute halten muß man den Anarcho-Primitivisten, daß sie auch diese Machtstrukturen selbst in Frage stellen. Auch wenn sie sie als Folge und nicht als Ursache der Industrialisierung ausmachen.

Inett Kleinmichel

www.greenanarchy.org

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2006 © scheinschlag 2006