Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Markierte Menschen

Neue Technologien erleichtern die Überwachung

Als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Rolltreppen gebaut wurden, ahnte noch niemand, daß sie sich gut 100 Jahre später nicht nur als bequeme Beförderungsanlagen, sondern auch als Bühnen der Sicherheitstechnik erweisen würden. Denn dorthin, wo fußmüde Kaufhausbesucher und U-Bahn-Fahrgäste gerne für ein paar Sekunden stehenbleiben, um sich zur nächsten Etage tragen zu lassen, blickt oft genug das Auge einer Videokamera. Nirgendwo sonst treten Passantenströme nämlich so kanalisiert, sauber aufgereiht und ruhig auf, optimal für ihre Erfassung.

Bis vor wenigen Jahren diente Videoüberwachung noch vor allem dazu, dem Sicherheitspersonal den gleichzeitigen Blick auf verschiedene Orte zu ermöglichen. Die Beurteilung, ob auf dem Monitor etwas Ungewöhnliches oder Unerwünschtes zu sehen war, war dem Menschen überlassen. Und so blieben auch die Möglichkeiten einer flächendeckenden Überwachung dadurch begrenzt, daß man unangemessen viele Wachleute hinter die Monitore hätte setzen müssen.

Seitdem jedoch Computer digitale Videobilder auszuwerten lernen, können sie dem Wachpersonal immer mehr Arbeit abnehmen. Sie werden darauf trainiert, abgestellte Gegenstände, den längeren Aufenthalt von Menschen und unerwünschte Verhaltensweisen zu erkennen. Sie liefern somit eine Vorauswahl der Szenen, die dann vom Wachschutz genauer betrachtet werden. Relativ wenige Menschen können somit eine sehr große Zahl von Videokameras bedienen.

Mittlerweile lernen die Computer sogar, bestimmte Menschen aus der Menge heraus zu erkennen. Noch vor wenigen Jahren hieß es, daß dies nicht möglich sei, da es zu enormen Fehlerquoten kam. Die Schärfe digitaler Bilder wie auch die Rechenleistung haben seitdem aber zugenommen, und so kommt die Rolltreppe ins Spiel: Wer dort entlanggleitet, kann von einer Kamera erfaßt und mit einer Datenbank gesuchter Personen abgeglichen werden. Das können Menschen sein, nach denen gefahndet wird, die vermißt werden, die in einem Gebäude Hausverbot oder im öffentlichen Raum einen Platzverweis auferlegt bekommen haben. Aber natürlich können ­ die Stasi läßt grüßen ­ auch andere Personen beobachtet werden, die ins Visier der Polizei geraten sind.

Im Mainzer Hauptbahnhof testet das Bundeskriminalamt gerade eine Anlage zur Gesichtserkennung. Freiwillige Testpersonen haben sich fotografieren lassen, nach ihnen sucht nun jeden Tag das Überwachungssystem die Passanten auf der Rolltreppe ab. Um die Fehlerquote des Systems zu ermitteln, haben die Testpersonen einen individuellen Funkchip erhalten, so daß nachvollzogen werden kann, wann sie tatsächlich den Bahnhof durchquert haben.

Diese RFID-Chips (Radio Frequency IDentification ­ Funkerkennung) erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Ohne über eine eigene Stromversorgung zu verfügen, werden sie von einem Funksignal angeregt, Daten zu senden, z.B. eine individuelle Seriennummer. Aus einer Entfernung von bis zu zehn Metern können die Daten von einem Lesegerät empfangen werden. RFID-Chips stecken bereits in den neuen biometrischen Reisepässen, wenn auch durch einen Code gegen verstecktes Auslesen geschützt. Der Metro-Konzern testet in seinem „Extra Future Store" die Chips als digitale Preisschilder, die an der Kasse automatisch ausgelesen werden ­ zumindest solange der Einkaufswagen nicht aus dem üblichen Metallgitter besteht. Denn durch solche Gitter oder Metallfolien werden die Funkwellen abgeschirmt. Datenschützer kritisieren nun, daß die Kunden durch Gegenstände, die mit einem solchen Funkchip versehen sind, ebenfalls mit einer Seriennummer herumlaufen und durch Lesegeräte identifiziert werden können.

Im Alton Towers Vergnügungspark, irgendwo auf halbem Weg zwischen Birmingham und Manchester, wird zum Frühjahr 2007 ein ungewöhnliches RFID-gesteuertes System in Betrieb genommen: Der Park ist mit versteckten Videokameras ausgestattet, die auf einen den Gästen ausgehändigten Funkchip reagieren. Ergebnis ist ein halbstündiger Zusammenschnitt des Besuchs im Park auf DVD, natürlich gegen Gebühr.

Dieses Beispiel macht deutlich: Sind Menschen bereits durch einen Funkchip markiert, können sie in einem mit funkgesteuerten Videokameras ausgestatteten Gebiet optimal überwacht werden. 1984 rückt näher. Die Bundesregierung sieht zur Zeit jedoch keinen Anlaß, RFID-Chips datenschutzrechtlich näher zu betrachten, da sie ja nur für Waren eingesetzt würden.

Tobias Höpner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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