Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Atmosphärische Dichte am Hansaplatz

Die Akademie der Künste zeigt Fotografien von Sybille Bergemann

Eine Einstimmung auf die Reise, auf die einen Fotografien Sybille Bergemanns mitnehmen werden, erhält man bereits am Hansaplatz, wenn man aus der U-Bahn steigt. Dort fühlt man sich in die 60er Jahre zurückversetzt. Zwischen aufeinandergestapelten und aneinandergereihten Hochhäusern bilden eine Apotheke, die Sparkasse, ein Blumenladen, das Grips-Theater und Bolle – wo in Berlin gibt es eigentlich noch Bolle? – das Zentrum des Viertels. Einmal im nördlichen Hansaviertel angekommen, führen alle Wege zur Akademie der Künste in den Hanseatenweg. Dort zieht Sybille Bergemann – „Ostfotografin", Schülerin und Lebenspartnerin von Arno Fischer, 1990 Mitbegründerin der Fotoagentur Ostkreuz – den Besucher in ihren Bann, nimmt ihn mit auf Reisen „zum Rand der Welt", zum Widersprüchlichen und „nicht Austauschbaren". Schwarzweiße Berliner Hinterhöfe, blätternde Fassaden und die neu entstehenden Elfgeschosser zählen auf ihren Fotos genauso zu solchen Orten wie Clärchens Ballhaus. Von außen sieht das Tanzlokal 1976 beinahe so aus wie heute – einen rostigen Zaun gibt es davor und noch kein Café. Die Aufnahmen Sybille Bergemanns von drinnen entlarven die Gesten und Blicke der Männer, die hinter den Rücken der Frauen ausmachen, wer wen mit nach Hause zu nehmen gedenkt.

Ihre besondere, wirklichkeitsnahe, gleichzeitig träumerisch-melancholische Sichtweise ist es, die beeindruckt: Immer wieder tritt sie als Wissende auf, die mit Leidenschaft unter die Oberfläche zu blicken vermag. Manchmal auch nur zufällig. Als sie Modefotografien auf grauen, regennassen Straßen vor Fabrikgebäuden inszenierte, verhinderten schwarz rauchende Schornsteine den Abdruck dieser Bilder. Doch zeigen sie um so deutlicher die Umweltprobleme der DDR auf. Latente Kritik wollte sie ausdrücken, als sie die drei so typisch aussehenden DDR-Bürger vor einem Meer sich auftürmender Hochhäuser fotografierte. Die damit assoziierten positiven Aufbruchsgedanken vieler Menschen verwundern sie bis heute. Ähnlich paradox wirkt ihre Dokumentation des Marx-Engels-Denkmals. Sie näherte sich dem Entstehungsprozeß mit dem ihr eigenem distanzierten Blick und zeigte diese sozialistischen Größen mal eingehüllt in schwarzen Stoff, mit Augenbinde oder abgeschnitten auf Brusthöhe, mit Seilen festgezurrt. Im Auftrag des DDR-Kulturministeriums fotografierte sie nur das, was es zu sehen gab, und doch regt das steinerne Denkmal auf ihren Bildern zum Schmunzeln an. Als Entzifferin des Alltäglichen und Gegenwärtigen hält sie fest, wie Engels zwischen Fernsehturm, Forum Hotel und dem Schriftzug „Chemie aus Bitterfeld" mitten durch die 80er Jahre der DDR schwebt. Wie hier bestechen viele weitere von Sybille Bergemanns Fotografien durch atmosphärische Dichte und den klugen Umgang mit der ihr zur Verfügung stehenden Technik.

Viele Jahre später porträtierte sie den Zirkus RambaZamba mit ihrer Polaroidkamera. Die Polaroids erzeugen ihre ganz eigenen Atmosphäre, die zwischen Schönheit, Verklärung und Surrealem oszillieren. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt Bergemann Geschichten von roten Lippen, kleinen Prinzessinnen und großen Stars für den Augenblick. Inzwischen ist die Welt der Sybille Bergemann farbig. Eine Reise lohnt in jedem Fall.

Fanti Baum

Sybille Bergemann: „Photographien", noch bis zum 14. Januar in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, geöffnet Di bis So von 11 bis 20 Uhr

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