Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
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Fotograf der gesellschaftlichen Veränderung

Jürgen Henschels Bilder sind im Kreuzberg Museum zu sehen

Das Foto des auf der Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni 1967 erschossenen Benno Ohnesorg ist wohl fast jedem bekannt. An Jürgen Henschel, der das Bild damals machte, erinnert sich kaum einer. Das Kreuzberg Museum, dem der Fotograf einen Großteil seines Archivs vermachte, zeigt jetzt eine Ausstellung seiner Bilder.

Unter Henschels Fotos ist das Ohnesorg-Bild nur eines von vielen, die sein politisches Engagement spiegeln. Doch der 1923 geborene Henschel fotografierte noch viel mehr, wie zum Beispiel das Leben und die Veränderungen im Kreuzberger Kiez. Henschel war ein aufmerksamer Begleiter der Besetzerbewegung und ihrer Demonstrationen, den Auseinandersetzungen mit der Polizei, aber auch der Straßenfeste und Theateraufführungen kleiner freier Gruppen. Über dreißig Jahre Berliner und vor allem Kreuzberger Geschichte hat er so dokumentiert. Doch davon ist heute nicht viel bekannt.

1941, mit 18 Jahren, wurde Henschel an die Front beordert, eine Erfahrung, die ihn zum strikten Kriegsgegner werden ließ und Auslöser dafür war, sich später aktiv in der Friedens- und AntiAtomkraftbewegung zu engagieren. Nach seiner Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1949 war Henschel zunächst arbeitslos und wurstelte sich mit Gelegenheitsjobs durch. In dieser Zeit begann er ­ als Autodidakt ­ zu fotografieren. Die Fotos schickte er, meist mit eigenem Text, an die Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), die Wahrheit, so genannt in Anlehnung an die sowjetische Prawda. Erst mit 43 Jahren wurde Henschel fest eingestellt ­ als Stammfotograf bei der Wahrheit, in einer Zeit, in der es üblich wurde, Bilder nicht nur bei Agenturen zu kaufen, sondern auch mal direkt beim Fotografen. Ein Kommentar von Henschel zu seiner Nähe zu den moskautreuen Kommunisten ist dem Begleitkatalog der Ausstellung zu entnehmen. Darin heißt es, daß er mit der Zeit der Kriegsgefangenschaft durchaus positive Erinnerungen verbinde, da er dort nicht als Feind, sondern als Kollege behandelt worden sei. Eine Erklärung für die geringen Berührungsängste Henschels zum SEW-Kampfblatt. Andererseits könnte auch die Praxis der Quasi-Berufsverbote für Kommunisten und andere Linke in den 60er und 70er Jahren dazu geführt haben, daß Henschel gar keine andere Anlaufstelle hatte, um seine Arbeiten zu veröffentlichen. Die Ausstellung jedenfalls schweigt darüber.

Den Großteil der Arbeiten Henschels kann man nun im Kreuzberg Museum sehen und dabei Einblick in sein Leben und die Zeitumstände seiner Bilder gewinnen. Ein guter Teil seines Oeuvres ist jedoch über ganz Berlin verstreut, da er in den letzten Jahren viele seiner Bilder an Kultureinrichtungen verschenkte. Doch für den Betrachter ersteht auch mit dem verbliebenen Teil seiner Arbeiten im Kreuzberg Museum ein faszinierendes Bild Berliner Geschichte des ausgehenden letzten Jahrhunderts.

Inett Kleinmichel

„Jürgen Henschel – der Fotograf der Wahrheit", noch bis zum 31. Dezember im Kreuzberg Museum, Adalbertstraße 95a, geöffnet: Mi bis So von 12 bis 18 Uhr, Eintritt frei

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