Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Mini-chill-out in der heißen Jahreszeit

Die Wiederentdeckung des 1870er Bebauungsplans bringt die Vorgärten in die Stadt zurück

Auf Postkarten vom alten Berlin kann man sehen, daß viele Häuser einen Vorgarten hatten. Diese wurden auf Grund des Bebauungsplans von 1870 angelegt, der festschrieb, daß „Straßen, deren nächster Verkehr nicht ihre ganze Breite beansprucht, zunächst Vorgärten vor den Häuserfronten erhalten". Viele dieser kleinen Gärten vor der Haustür sind seit dem Zweiten Weltkrieg aus dem Stadtbild verschwunden. Der Verkehr nahm zu, die Straßen mußten breiter und die Gehwege schmaler werden. Vorgärten galten als altmodisch, pflegeintensiv und spießbürgerlich. Ihr Verschwinden veränderte das Straßenbild radikal. Übriggeblieben sind karge, gepflasterte Gehwege, die direkt mit der Fassade abschließen. Nur in wenigen Stadtteilen gehören auch heute noch Vorgärten zum Straßenbild.

Dabei liegt der Nutzen eines Vorgartens, gerade für die Bewohner im Parterrebereich, nach wie vor auf der Hand. Er ist eine Art Pufferzone zwischen privatem und öffentlichem Leben und verhindert den direkten Einblick in die Parterrewohnung von der Straßenseite her. Vorgärten lockern die Straßenatmosphäre auf, lassen heftig niederprasselnden Schlagregen versickern, verbessern die Sauerstoffversorgung in der Stadt, dämpfen Straßenlärm und bieten sich gerade in der heißen Jahreszeit als abendliche „Mini-chill-out-Zonen" an. Vorgärten können Katzenklo und Friedhöfe für Kuscheltiere sein. Und selbst Berlins „Straßenkinder" können durch Vorgärten hautnah den dynamischen Wandel der Jahreszeiten miterleben.

Im Sanierungsgebiet Victoriastadt in Berlin-Lichtenberg wird die Idee des Vorgartens gerade neu entdeckt. Federführend ist dabei der Architekt Thomas Lang. Er wurde vor ca. zehn Jahren mit der Modernisierung und Sanierung eines Altbaus in der Hauffstraße beauftragt. Bis in die frühen 90er Jahre hinein war das Haus im Besitz eines Vorgartens, den der Voreigentümer im Zuge der Neugestaltung der Straße an den Berliner Senat abgetreten hatte. Woraufhin die Fläche eingeebnet und gepflastert wurde. Übrig blieben ein relativ breiter Gehweg und eine vielbefahrene Straße. Trotzdem blieb der wegsanierte Vorgarten als Teil des Grundstücks im Grundbuch eingetragen. Die Gemeinschaft der Neueigentümer ließ sich von der Idee des Architekten, den Vorgarten wieder herzurichten, begeistern. Bei den zuständigen Behörden dagegen stieß Lang mit seinem Vorhaben zunächst auf Skepsis. Da aber die Hauffstraße in einem Denkmalschutzgebiet liegt und ein Vorgarten als Teil des Grundstücks im Grundbuch steht, hatte er die besseren Argumente auf seiner Seite.

Nachdem Lang sein Anliegen durchgesetzt hatte, mußte die Größe des neuen Vorgartens festgelegt werden. Der Bebauungsplan von 1870 legt fest, daß „eine 7 Ruthen (eine Ruthe = ca. drei Meter) breite Straße, welche bei größerem Verkehr einen 4 Ruthen breiten Fahrdamm und je 1 Ruthe breite Bürgersteige erhält, zunächst mit 1 Ruthe breiten Vorgärten angelegt wird". Für die bereits sanierte Hauffstraße war diese Vorgabe nicht praktikabel. Der Architekt handelte deshalb mit dem Amt einen Kompromiß aus: Zwei ­ recht kümmerlich wirkende ­ Meter tief soll der Vorgarten nun werden. Nach mehr als zwei Jahren der Planung konnte die Hausgemeinschaft die Pflasterung des Gehwegs aufnehmen, ausschachten, Fundamente gießen und kleine Aufmauerungen herstellen. Der Anblick des fertiggestellten Vorgartens war so überzeugend, daß mehrere Hausgemeinschaften nachzogen und ebenfalls Vorgärten anlegten. Im Jahr 2000 zog die Planungsbürokratie daraufhin nach und änderte den Rahmenplan für das Denkmalschutzgebiet. Nun sollen nach Möglichkeit überall Vorgärten eingerichtet werden.

Begutachten kann man diesen Prozeß derzeit in der Türrschmidtstraße, die seit 2005 saniert wird. Die Anwohner regten an, die verschwundenen Vorgärten wieder herzurichten. Die Behörde nahm Kontakt mit den Hauseigentümern in der Straße auf. Es stellte sich heraus, daß die rechtlichen Voraussetzungen viel komplexer als in der Hauffstraße waren. Die wegsanierten Vorgärten waren nach Kriegsende nämlich dem Straßenland zugeordnet worden, damit dort neue Versorgungsleitungen verlegt werden konnten. Diese müssen nun trotz eines neu angelegten Vorgartens frei, d. h. ohne Erlaubnis des Hauseigentümers, zugänglich sein. Als die Klärung dieses Rechtsproblems die laufende Sanierung der Straße zu behindern drohte, entschloß sich das Bezirksamt, eine „Nutzungsvereinbarung" mit jedem betroffenen Hauseigentümer abzuschließen. Sie legt fest, daß der Vorgarten weiter öffentliches Land bleibt. Ohne Rücksprache mit dem Hauseigentümer darf dieser aufgegraben werden, um darunter liegende Kabel und Rohre freizulegen. Die Wiederherstellung des Gartens fällt dann zu Lasten des Hauseigentümers.

Seit Frühjahr 2006 entstehen in der Türrschmidtstraße Fundamente und Mäuerchen für die drei Meter tiefen Vorgärten. Kosten entstehen den Hauseigentümern kaum. Selbst die Grundausstattung mit Mutterboden und Pflanzen wird mit bis zu 3000 Euro vom „Grünfonds" der Sanierungsverwaltungsstelle finanziert. Nur der Metallzaun, der allerdings nicht zur Pflichtausstattung eines Vorgartens gehört, muß vom Hauseigentümer bezahlt werden.

Gerade Stadtteile, die von überbreiten, kaum genutzten baumlosen Gehwegen dominiert werden, könnten durch Vorgärten eine sinnvolle Erweiterung des innerstädtischen Erlebnisraumes erfahren.

Vor 100 Jahren war es üblich, daß Hausbewohner ihre Klappstühle auf die Straße stellten, um auf der Straße mit den Nachbarn einen kleinen Plausch zu halten. Vielleicht kann eine Wiederkehr der Vorgärten diesen verlorenen Aspekt des Berliner Stadtlebens wiedererwekken.

Michael Freerix

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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