Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ort: allgemeinplatz

Foto: Andreas Büttner

übern platz

jetzt werden die tage schon wieder länger, sagte jemand. vorhin noch, in dem kleinen café. du hättest dir etwas heisses mit rum gewünscht, aber du musstest noch fahren. ausserdem waren die tage noch nicht so lang wie die gesichter der touristen. die einheimischen fandest du beeindruckend, die touristen verschwanden irgendwann, dann waren noch immer ein paar von den verfurchten leuten im lokal und an den hausecken. bisschen was erzählen, noch nicht so früh nach hause. noch einmal den wind, den es nachmittags um fünf schon gegeben hatte, jenen wind, der einen wo hin zog, man wusste nicht ob man ihm trauen durfte, aber man folgte ihm, diesen wind noch einmal in die nase bekommen und gegen die stirn. das machte frei. und das machte leer wie der platz, der, mit einem leichten grissel bedeckt, leicht schimmerte, nicht glänzte, und den man alleine besass, solange einem nicht peinlich war, wenn fremde beim bahnen laufen zusahen, schamlos zwischen den pöllern standen oder ihren hintern kalt froren auf einem der sitzsteine. solange einen nicht zu sehr interessierte, wohin das junge paar ging und aus welcher tür es getreten war, wer aus einem der oberen, zahngelben zimmer hinterherschaute. war das ein paar dort? gehörten die beiden wirklich zusammen oder machten sie sich nur einen spass und lachten laut auf, sobald sie um die nächste ecke verschwunden waren und sich weder sicht- noch hörbar glaubten, der welt abhanden gekommen, in ein anderes universum gerutscht? jetzt werden die tage schon wieder länger, und je wärmer der wind wird, desto eher lässt du jede schokolade schokolade sein und gehst ins freie.

detail 1

blick über den platz. ein grauer tag. wenigstens die wolken haben kontur. einzelne menschen, haufen von leuten, einkaufstaschen. blasse fassaden, man wünscht sich balkone, die patina italienischer palazzi. nichts dergleichen. niemand, der aus dem fenster lehnt. nicht einmal ein schatten hinter der gardine. wind. sonst trocken.

eine müde frau, jemand, der an einem fahrradschloss hantiert. ein polizist. ein kassettenrekorder. staunen. schon ewigkeiten her, dass du ju-

gendliche mit kassettenrekordern hast herumhängen sehen. da steht bereits ein mittdreissiger, der die jungs bewundert. aus sicherer entfernung. so schlenderst du weiter.

zwei handwerker mühen sich um eine lichtreklame. das schild „hauptbahnhof" fehlt bereits seit der renovierung. die uhr ist geblieben. kurz vor halb drei. ein polizist. die zeit verbraucht sich. die fahnenstangen klappern, currybudendunst drückt aus der halle heraus, umhüllt dich, betäubt dich. von irgendwo hallt eine nachmittagsshow. hier gibt es farben, blass zunächst, dann grell, ohne übergang. du bist drin. vorbei an dir der junge mit fahrrad, in der linken das geknackte schloss. schöner anorak. blau. tiefblau. und volle lippen. du gehst schneller.

orientierungslos. die halle, das gebäude, eine übersichtliche siebzigerjahre architektur. dir schwindelt. die farben sind grelle allerweltsbilder. der polizist. eine zeitung. eine bank, kalt, stahl. erbrochenes auf dem beton. reste von blut. staub und fett an der wohnungstür. der polizist, der dir den abdruck eines fremden ohres auf deiner wohnungstür zeigt. die einbrecher haben gelauscht, ob jemand zu hause sei. die jacke an, den stichweg hinunter, zwischen den wohnblocks entlang in die innenstadt. luft schnappen. auf andere gedanken kommen.

ist Ihnen nicht gut? dochdoch. schon gut. ich bin okee. ein drittklassiger amerikanischer actionstreifen. ein abgeordneter der konservativen partei sprach von der steigenden gefährdung durch banden oder verantwortungslose jugendliche mit tonbandgeräten, die verkehrsgeräusche abspielen, kraftfahrer in verwirrung stürzen und die mitgeschnittenen beschimpfungen in irgendeinen üblen underground club nach mayfair und piccadilly tragen.

die frau auf der grossbildleinwand, eine schwarze reporterin; toupiertes haar, rote bluse mit spitzem kragen. die frau im imbiss zieht die hand zurück, wenn du ihr das geld geben willst. sie berührt die

dafür vorgesehene schale. die handwerker teilen
die menge mit ihrer leiter; unter der bank liegt ein papier. liebe mutter, heute will ich auch dir ein paar zeilen schreiben.

detail 2

die frau auf dem bahnsteig. wie sah sie aus, was hatte sie an? wasserblaue augen, ein kantiges gesicht. dunkle bartstoppeln, spätnachmittags. der polizist lächelt nicht, der polizist ist nahe dran. die 30cm-grenze ist ein gerücht, das wissen wir beide. die frau auf dem bahnsteig trug einen wadenlangen, dunklen rock und hatte eine reisetasche bei sich. reissverschluss, seitlich. die frau war blond. glaube ich. nach einer stunde oder anderthalb erinnert man nur das wichtigste. die frau interessierte sich für den brief. wo ist der brief, fragt der polizist.

es wird langsam wärmer, nachdem ein sturm dem anderen folgte. reste von blutspuren. hochhausmauern. man kann sich schon wieder schöne tage vorstellen, menschen, die sich nicht verunsichern lassen durch einen stromausfall. vor dem kiosk ein mann im rollstuhl. sportlich, blaue trainingsklamotten, schmales gesicht. wie sah der junge mit dem fahrrad aus? der polizist wendet sich dem verkäufer zu, verabredet mit einem kurzen blick zurück ein weiteres gespräch, ich soll nicht weggehn. die zeitungen sind ausverkauft, keine meldungen mehr. die halle leert sich allmählich. ein vorletzter schwung studenten und arbeiter, ein letzter, dann ist der abend angebrochen. auf der bank eine vergessene stulle, im himmel musik.

wieder auf dem bahnsteig, geniesse ich das gestreute zwielicht. verliebt in eine idee lehne ich nahe der treppe an einem pfosten. ein strich zielt auf

etwas weit entferntes, ich weiss nicht, wie lang der abend noch wird, aber ich bereite mich vor auf ihn. krame nach einem kaugummi, fühle den zettel in der brusttasche und denke an eine auszeichnung, die man auf brusthöhe trägt. oder wie etwas, das einen vor der kugel schützt. ein brief, etwas, das übriggeblieben ist aus einer ausgeraubten wohnung, von einem liebesexperiment: keine reaktion, die zur explosion geführt hätte, einfach ausgeflossen, kugelschreiberblau. das hemd verfärbt. use, abuse, excuse: mir dringt ein altes lied zwischen die sehr klare luft und das gefühl von katz und maus.

stell dir vor, letzte woche entdeckte die feuerwehr in unserem block einen mann, der schon beinahe einen monat tot am küchentisch gesessen hatte, bevor die nachbarn sich über den gestank beschwerten, der aus der wohnung drang. der einfahrende zug wirbelt bahnhofsstaub auf. menschen, die die treppe heraufschwappen. mir wird wieder schwindlig, noch bevor die türen der waggons sich öffnen. die tasche war der frau von der schulter gerutscht, rufe ich dem polizisten zu, ehe er zu einem vorwurf luft holen kann. er hat mich also gefunden, wiedergefunden. er wird mich mitnehmen. können sie mich mitnehmen? auf dem weg nach draussen, zum vorplatz hin, kaufe ich eilig noch ein päckchen zigaretten. alles muss schnell gehen. ich stolpere auf dem kopfsteinpflaster, aber ich falle nicht. schön, wenn jemand jetzt hinter mir herriefe. für heute genug. ich werde aber demnächst auch an dich denken. herzliche grüsse.

Crauss.

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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