Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Stativ, Regenjacke, Notizblock

Eine wenig kampflustige Leidenschaft: Trainspotting

Kann man alleine Sport treiben oder muß man mit anderen irgendetwas „spielen", dabei in Konkurrenz zum Gegner oder zur gegnerischen Mannschaft auftreten, um sie letztendlich – im besten Fall – zu besiegen? Bei Ballsportarten ist es ziemlich klar. Fußballspieler schießen idealerweise Tore und gewinnen.Judo ist auch Sport, wie auch Trampolinhüpfen, Schwimmen, Hula-Hoop-Reifen-in-der-Luft-um-den-Bauch-Herum-bewegen. Hier kann man auch die Ergebnisse messen – wer ist am höchsten gesprungen, wer schwimmt am schnellsten, wer kann das Ding mit dem runden Ding so lang wie möglich machen?

Es gibt auch Sportarten, die ­ anders als Fußball ­ weder Uniformen und Kampfrufe, noch vorhersehbare Endergebnisse kennen. Zum Beispiel „Trainspotting". Es hat nicht viel mit dem schottischen Film voller Drogen gleichen Namens gemein, obwohl „Mainlining", ein Begriff aus der Heroin-Welt, doch etymologisch verwandt ist.

Zugegeben, der Zeitvertreib des Zugnummernaufschreibens ­ darum geht's hier letztendlich ­ kommt nicht sehr oft „auf dem Kontinent" vor ­ aber wer Bahn „auf der Insel" fährt, hat sie bestimmt gesehen, die Trainspotter. Auf Bahnbrücken, auf Bahnsteigen, mit Stativ, Regenjacke, Notizblock, Thermoskanne und Fotoapparat ausgestattet (doch eine Uniform?), manchmal in Grüppchen, öfters einzeln, sind diese Männer zu finden, labbrige Sandwiches kauend.

Eine Kleinstindustrie existiert, um sie bei ihrem Steckenpferd zu halten ­ Bücher, Zeitschriften, Videos, mittlerweile auch Internetseiten und Newsgroups. Eisenbahnbetreiber unterhalten Organisationen für Kinder, mit sportlichen Regenmänteln, Aufnähern und Buttons zum Anstecken.

Und was macht das Hobby, ähem, den Sport des Zugnummernaufschreibers aus? Zugnummernaufschreiben, natürlich. Und dann? Wie, und dann? Man muß natürlich vorher die Züge gesehen haben. In der Regel geht es um die Lokomotiven, aber wer wirklich Sisyphosarbeiten liebt, darf auch Wagennummern sammeln. Diejenigen, die keine Lust dazu haben, leere Bücher mit Zahlen zu füllen, können auch fertige Bücher kaufen, und alle Loks, die gesehen werden, abhaken. Mal verabschieden sich die Loks und Wagen vom Dienst, mal werden neue gebaut. Deswegen sind die Chancen, „fertig" zu werden, ziemlich gering.

„Es ist, glaube ich, wie jedes andere Sammelhobby", meint Phil Richards. Er ist Hauptreiseberater im Londoner Büro der französischen Staatsbahn SNCF, verkauft Auslandszugfahrkarten und hat die meisten europäischen Länder auf den Schienen besucht. „Man will den ganzen Katalog voll bekommen. Es ist wie das Sammeln von Busnummern oder Flugzeugkennzeichnungen ­ oder Briefmarken."

Phil Richards sammelt Postwertzeichen ­ ob er selber Trainspotter ist, verrät er nicht. Es scheint bei ihm eher um das Reiseerlebenis zu gehen, was in seinem Beruf sicher von Vorteil ist, und dabei verschiedene Zugtypen kennenzulernen. Im Internet veröffentlicht er Reiseberichte ­ einschließlich Zugtyp, die Fahrkarten, die er benutzt hat ­ und natürlich die Zugnummern dazu. Aus Bowlen in Templin mit einem „Ferkeltaxe" der Reichbahn, Januar 1993: „In Lübben konnten wir der Bahnhofsbistrobesitzer stören und jeweils ein Tee und eine Tasse Kaffee bestellen ­ der Kaffee war nur lauwarm, während der Tee wahrscheinlich mit dem superheißem Wasser direkt aus dem Boiler des (Zuges) 202.497 gemacht wurde!"

Das Hobby des Zugnummernaufschreibens fing zwischen den Weltkriegen an, als die ersten Loklisten veröffentlicht wurden. In den Sechzigern kam eine Renaissance, kurz bevor die Dampfloks verschrottet wurden oder im Museum verschwanden, und obwohl mittlerweile die meisten Züge in England eher der Berliner S-Bahn ähneln, ist dieser Sport noch am Leben.

In vielen Ländern ist es noch verboten, Eisenbahnanlagen zu fotografieren ­ sie gelten als Staatsgeheimnis. Großbritanniens Bahnfans kannten solche Behinderungen nie, auch wenn es seit dem 11. September 2001 etwas schwieriger geworden ist, das Hobby zu betreiben. Die Bahnpolizei bittet die „Bahnbegeisterten" darum, sich vorher beim Bahnhofsmanager anzumelden ­ und nicht nur auf die Züge aufzupassen, sondern auch Merkwürdiges sofort zu melden. Mit Thermoskanne gegen dem Terrorismus?

Weder Sommerpausen noch Saisonendtabellen kennen die Trainspotter ­ höchstens am 25. Dezember gibt's eine Pause, wenn im Königreich keine Züge fahren. Am selbigen Tag kommt die Post übrigens auch nicht. Dann können die Trainspotter vielleicht stattdessen Angeln gehen oder Vögel beobachten ­ zwei Sportarten, die auch meistens von Männern betrieben werden und bei denen es um Sitzen, Gucken, Listen und Technik geht.

Matthew Heaney

Phil Richards' Reiseberichte: www.philrichards1.pwp.blueyonder.co.uk

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 09 - 2006 © scheinschlag 2006