Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
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„Wir experimentierten auf freiem Feld"

Ostberliner Avantgarde gestern: Was die Prenzlauer Berg-Szene auf Kassetten bannte

Ach ja, was ist Berlin nicht für eine spannende Kulturmetropole! Die Chefredakteurin des selbsternannten „Hauptstadtmagazins" entblödet sich nicht, in ihrem Blatt darüber zu jubeln, daß in den letzten Jahren so viele Fernsehschauspieler nach Berlin gezogen seien und daß selbst gutverdienende Künstler, die sich das leisten könnten, ihre Ateliers nicht nach London verlegen würden. Endlich Hauptstadt! Klasse! Und in den Kneipen und Cafés der Stadt kann es doch tatsächlich passieren, daß einem Daniel Brühl oder Otto Schily über den Weg läuft.

Wer höhere Ansprüche an die Künste hat, der muß aber den Eindruck gewinnen, Berlin habe seine goldenen Kulturjahre schon hinter sich. Denn was die Archivare und Archäologen jetzt nach zwei Dezennien zu Tage fördern, läßt das, was in den achtziger Jahren ­ im Ostteil wie im Westteil der Stadt ­ produziert wurde, wesentlich lebendiger und subversiver erscheinen als die meiste Berlin-Kunst unserer Tage. So erfrischend die DVD Berlin Super 80 war, die Westberliner Undergroundfilme jener Jahre kompilierte, so anregend ist die akustische Anthologie, die Bernd Jestram, Bo Kondren, Ronald Lippok und Bert Papenfuß jetzt zusammengestellt und mit dem Titel Spannung. Leistung. Widerstand versehen haben: „Unter Spannung stand man notgedrungen permanent. Um Leistung ging es nie. Und Widerstand? Passierte grundsätzlich, als ästhetische Lebenshaltung& symbolisch nebenbei."

Die Doppel-CD, deren Booklet sich zu einer veritablen Buchpublikation ausgewachsen hat, versammelt Material, das eine Szene, die sich zwischen Punk, literarischem Underground und frühen elektronischen Experimenten bewegte, auf Kompaktkassetten bannte. Anders als im Westen war das nicht unbedingt eine günstige, unkomplizierte Möglichkeit, aber immerhin war es eine. Alexander Pehlemann und Ronald Galenza rechnen in ihrem Vorwort vor, daß man für eine Leerkassette fast eine halbe Monatsmiete hinlegen mußte; aber die Mieten waren andererseits ja auch billig. Und man wußte Freiräume zu gestalten und zu nutzen. „Wir experimentierten auf freiem Feld", erklärt der Musiker Bo Kondren im Begleitbuch. „Es gab recht viel Zeit. Staat und Stasi interessierten sich wenig für Aufnahmen im Untergrund, solange diese eher künstlerisch blieben und nicht versucht wurde, sie in den Westen zu bringen."

Die Herausgeber waren zunächst skeptisch, ob die Hinterlassenschaften auf Magnetband, die sie in Kartons mit Aufschriften wie „Alte Scheiße" und „80er Jahre-Dreck" verwahrten, eine Publikation überhaupt rechtfertigen würden. „Es war zum Anfang völlig unsicher, ob wir überhaupt das Material zusammenkriegen", sagt Kondren, „ob es überhaupt etwas gibt, was uns wirklich interessiert und man auch auf einer CD kompilieren kann." Es gab eine ganze Menge, genug für zwei abwechslungsreiche CDs, auf denen wir Stefan Döring, der Magdalene Keibel Combo, der Kriminellen Tanzkapelle, Ornament und Verbrechen und natürlich auch Bert Papenfuß und Bo Kondren begegnen. Die Aufnahmen entstanden in Berliner Privatwohnungen, Proberäumen, aber auch schon mal in einer Schnapsbude in Karl- Marx-Stadt. Bei denen, die damals dabei waren, mag Nostalgie aufkommen, die Nachgeborenen können Entdeckungen machen.

Und einmal wären der Underground West und der Untergrund Ost sogar beinahe zusammengetroffen ­ auf einer Budapester Konzertbühne. Davon berichtet Wolfgang Müller, der in dem Buch die Westperspektive auf die Vorgänge in Ostberlin repräsentiert.

Peter Stirner

Ronald Galenza und Alexander Pehlemann (Hg.): Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979-1990. Verbrecher Verlag und ZickZack, Berlin 2006. 29,90 Euro

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