Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wir leben doch, und wir müssen hier noch eine ganze Weile leben

Über Liebe, Stolz und Ärger von einem, der die Sonnentage im Jahr auf einer Bank im Soldiner Kiez verbringt

Wenn du ein Porträt schreiben willst, mußt du schreiben, was ich liebe. Schreib auf: Ich liebe eine gewisse Abgeschiedenheit. Ich liebe es, in Frieden gelassen zu werden. Ich liebe es, respektiert zu werden. Ich liebe die Sonne und die Bäume, das bombastische Grün und Gelb der Blätter, die letzten Herbsttage. Ich sitze oft auf dieser Bank.

Ich bin ein Außenseiter, ein Berliner Urgestein, bin in Kreuzberg großgeworden und früh zu Hause raus, nicht ganz freiwillig. Dann bin ich nach Wedding gezogen. Ich habe bald wie ein Teufel gesoffen, bin in ein betreutes Wohnen gezogen, und als ich wieder soweit beisammen war, bin ich in diesen Kiez gezogen, in den Soldiner Kiez. Wenn man nichts vorzuweisen hat und auf einen Vermieter angewiesen ist, der an solche wie mich vermietet, dann findet man hier sein Plätzchen. Ich bin hierher gezogen, weil ich keine andere Wahl hatte. Vielen hier geht es so.

Der Kiez ist hier, die Soldiner Straße von der Panke bis zur Drontheimer. Das jedenfalls nenne ich den Kiez. Mit dem Kiez meine ich Armut, vor allem. An den Biertischen in den Kneipen wird lamentiert, daß sie auf dem Hartz sind oder kurz davor. Wenn man nicht trinkt, hört man besser, was sie eigentlich reden. Auch, daß es immer dasselbe ist. Mit Kiez meine ich auch, daß hier viel geklaut wird und daß es Cliquen gibt oder Gangs oder wie man es nennen will, mit denen du dich nicht anlegen solltest. Und daß sie Drogen verticken, manche, wenn du viel draußen bist, bekommst du das mit, das ergibt sich.

Aber noch viel mehr gibt es den Suff. Und den liebe ich nicht, schreib das auf. Ich liebe ihn nicht, weil ich ihn kenne. Er ist eine Krankheit. Erst wenn du nicht mehr trinkst, siehst du klar, was das eigentlich ist. Wenn sie voll sind, sind sie wie verwandelt, sie sitzen da und reden aneinander vorbei. Und alle zusammen machen sich was vor, sie sagen, ja, und irgendwann mach ich Schluß damit. Aber sie machen nie Schluß damit, das weißt du, wenn du trocken bist. Der Suff ist die Krankheit des Kiezes: Dies ist ein schlechter, kranker, krimineller Kiez.

Hier leben viele, die irgendwas mitgemacht haben, so daß sie entweder nicht mehr arbeiten oder trinken oder beides. Oder sie haben nichts mitgemacht und sich nichts zu schulden kommen lassen und sind trotzdem hier. Leben hier. Ich spreche von denen, die hier leben. Nicht von denen, die am Morgen zur Arbeit fahren und am Abend zurückkommen, die Treppen hochsteigen, in der Wohnung fernsehen. Wer hier lebt, so wie ich es meine, ist hier, von Vormittag an bis es auf der Soldiner dämmert. Wir sind viel draußen. Du kannst nicht den ganzen Tag über in der Bude sitzen. In Buden wie meiner schon gar nicht. Du gehst raus, siehst, wen du triffst, bald kennst du sie. Sie sind ja immer da ­ fahren nicht weg, ziehen nicht um. Wir sind auf der Straße, plaudern. Sitzen hier auf der Bank. Es hat sein Gutes für mich, hier zu leben. Du kannst dich hierher setzen und reden. Sie reden mit dir. Wenn du da bist und deinen Platz behauptest, respektieren sie dich. So wie du bist. Sie brauchen Zeit. Für alles brauchen sie viel Zeit. Sie respektieren sich gegenseitig so wie sie sind. Das muß sein. Und wir lassen uns in Frieden. Wir reden ­ dies und das ­ aber nicht über alles. Wir wollen nicht alles voneinander wissen. Man muß Distanz halten. Auch das muß sein. Denn du begegnest den anderen morgen auch noch und übermorgen auch. Und sie sind nicht alle schön und klug und interessant, sondern sie nerven und sind häßlich oder blöd und haben grausige Geschichten, die du dir nicht zumuten kannst, auf die Dauer. Deshalb nerven wir uns nicht, und wir mögen diese Frau nicht so sehr, die ständig und immer wieder die Geschichte von ihrem Mann erzählt, den sie erschlagen haben. Nerv nicht, schrei ich sie an. Das muß dann sein. Du kannst nicht immer und immer von einem Toten erzählen. Halt's Maul. Tote, Tote, Tote. Wir leben doch, und wir müssen hier noch eine ganze Weile leben. Der Kiez ist klein. Du kannst dir keine Händel mit irgendjemandem leisten. Versteh mich nicht falsch, es ist nicht schlecht gemeint, wenn Corinna von einem über diese Bank geknallt wurde, und Jochen, der dabeisaß, hat nichts getan. Sie blutete, er rief 'nen Krankenwagen. Danach. Aber er hat dem Typen keine auf's Maul gehauen, obwohl's vielleicht gegangen wäre, weil der auch besoffen war. Aber du weißt nicht, mit wem der befreundet ist, mit wem du dich anlegst, und der Kiez ist klein, und wir sind morgen noch hier, weil wir nicht wegziehen können. Wegen dem Hartz schon nicht. Und Corinna, die war mal Lehrerin, jedenfalls erzählt sie es so, kommt tags danach wieder zur runden Bank. Sitzt in der Sonne, ihre Bierflaschen in so 'nem Beutel. Raucht. Erzählt. Ich muß nicht wissen, ob Corinna wirklich Lehrerin war. Klug reden kann sie. Aber säuft, und wenn sie voll ist, dreht sie die Augen nach oben, daß man nur noch das Weiße sieht.

Ich rühre keinen Tropfen mehr an, nie mehr, denk ich jedenfalls. Darauf bin ich stolz. Es ist wichtig zu wissen, wer man ist und auf welchem Level man sich bewegt. Und den Stolz braucht man, gerade dann, wenn man weiß, daß man nichts wahnsinniges reißen kann, kein Großkotz, niemals mehr, mit Anzug und Job.

Manchmal geh ich zu Achim Brunken, der war auch ein Säufer. Ein schlimmer Säufer. Heute ist er trocken, ist auch auf dem Hartz, er betreibt einen Antialkoholikertreff. Der hilft Leuten, eine Wohnung zu finden, weil er viele kennt, ist früher mal Hauswart gewesen, und wenn du Möbel brauchst, kümmert er sich auch. Das gibt's hier auch. Gibt es viel in diesem Kiez, neben Brunken sind welche, die Essen ausgeben. Auch aus dem Kiez. Auch auf'm Hartz. Das ist, wenn ich es recht überlege, auch was besonderes. Das gäbe es in Wilmersdorf nicht. Aber daß ich ihn liebe, diesen Kiez, nein, das würd ich nicht sagen, das wär zuviel gesagt. Diese Bank mag ich. Und die Herbstbäume. Und die Tauben, die wir immer füttern. Obwohl es heißt, daß man die nicht füttern darf.

Dieses doku-fiktive Gesprächsprotokoll entstand, nachdem die Autorin von Spätsommer bis Herbst je einen Nachmittag in der Woche auf der Bank an der Panke verbrachte. In der Stimme, die spricht, vermischen sich die Identitäten verschiedener Personen und deren Aussagen über den Kiez.

Tina Veihelmann

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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