Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sollbruchstellen im Herbst

Ein Tag wie aus dem Bilderbuch, spätsommerlicher Herbst oder herbstlicher Spätsommer – es ist November!

Menschenkind würde jetzt gern mit Stahlroß oder Drahtesel und mit Ditte das städtische Ballungsgebiet verlassen und durch märkische Alleen sausen oder gemächlich auf verschwiegenen Wegen in brandenburgischen Waldungen wadeln, um Ritterlinge, Träuschlinge oder etwa den rosablättrigen Helmling zu besuchen, die dort in kleinen Trupps im Unterholz warten ­ vermutlich.

Doch bevor man groß rauskommen kann, muß man nach unten. Menschenkind begibt sich in den seit Wochen nicht betretenen Keller, er will seinen Fahrzeugbestand sichten und eventuell ein paar Kleinreparaturen ausführen. Oje, dort hinter den Kisten, ist das nicht der legendäre „Eisenhans"? Ja, er ist's! Ein stolzes Stahlroß erster Güte, nach englischer Norm in einer indischen Manufaktur hergestellt. Den „Eisenhans" wieder aufrüsten, daß er in den Nachrichten erscheint! Trotz Wirtschaftswachstum und Dynamik des Außenhandels, trotz Großer Koalition und Globalisierung ist die Beschaffung von Ersatzteilen für den indischen „Eisenhans" eine ziemlich knifflige Angelegenheit. Obschon Menschenkind zum abgehängten Prekariat gehört und die prekäre Pfuinanzsituation keine großen Sprünge zuläßt. Armer „Eisenhans", mußt auf den Aufschwung hoffen. Asynchron. Als Schleifringläufer.

Der Wald ruft. Menschenkind ist inzwischen gereizt, aber immer noch relativ locker. Schließlich steht auf dem Hof noch der „Torsten". Der Rahmen von „Torsten" ist blau. „Torsten" kam als sogenanntes Trekking-Rad zur Welt. Jetzt ist er nur noch dreckig. Wer rastet, der rostet auch noch obendrein. Menschenkind sieht seine Felle davonschwimmen, auf Dahme, Spree und Havel oder Oder. Leider hat auch „Torsten" ziemlich Schaden genommen, zwölf Speichen des Hinterrads hängen wahllos in der Gegend herum, spreizen sich der milden Nachmittagssonne entgegen, obwohl sie eigentlich mit Nabe und Felge verbunden sein sollten. Die machen hier alle, was sie wollen, oder wie, murmelt Menschenkind entnervt vor sich hin. Er ermahnt sich, ermannt sich und entsinnt sich, Ditte nicht schon wieder hängen zu lassen. Noch besteht Hoffnung! Menschenkind bewaffnet sich mit einer Art Schraubenschlüssel, den der Volksmund als Franzosen bezeichnet (regional auch Engländer genannt), um die Deutsch-Amerikanerin seines Hauses aufzusuchen. Ihr, die ein Trimm-dich-Trimm-mich-Studio für Königspudel und Verwandte der Bundesregierung betreibt, wurde der Schlüssel für den Fahrradkeller überantwortet. Reichwein-Bowling. Er klingelt. Nicht mal die kreglen Königspudeldamen Minka& Pinka schlagen an. Nur Stille. Ganz kurz nur. Dann kläfft der Hund des Nachbarn, ein Rottweiler-Langweiler-Mischling ohne Papiere namens Ronny. Und sein Herrchen, der Maik, öffnet die Tür und beglotzt Menschenkind wie ein Auto. „Wat'n los, Alter?". „Nüscht is los", sagt Menschenkind entspannt, „wollte bloß den Schlüssel für den Fahrradkeller von der Bowling, mein ´Silberpfeil´ steht da noch drin." Maik lächelt mitleidig: „Da haste ziemlichen Streß, Alter, die Olle is letzte Woche umjezogen, nach Unbekannt, Alter!"

Menschenkind bedankt sich zickig für die nette Auskunft und sucht gespannt den Keller auf. Er starrt vernarrt durch die verschlossene Gittertür des Fahrradkellers auf seinen derzeit unerreichbaren „Silberpfeil", ein supersupi Mountainbike, ein einstiger Gefährte in schwerer Zeit. Aber die Luft ist raus.

„Herr, der Sommer war groß", stöhnt Menschenkind, „wer jetzt kein Fahrrad hat, der fährt keines mehr." Es ist schon später früher Abend geworden oder umgekehrt. Er wird jetzt Ditte zu einem Spaziergang durch das abendliche Berlin verführen. Kann ja auch ganz schön sein, im Herbst, so zu Fuß, und die Radler zischen an einem vorbei oder an zweien. Er hofft.

Ditte kann ja so grausam sein. Die Sollbruchstellen ihrer Zweisamkeit! Wir fangen noch mal von vorne an. Oder von hinten?

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

www.eisenhans.de

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