Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Fluch der Gemeinnützigkeit –
Wovon Sachverständige träumen

Von wegen arbeitslos – über den Mangel an Arbeit kann ich eigentlich nicht klagen. Den halben Tag war ich mit einer Kollegin unterwegs, in der Tram, an Bushaltestellen und auf dem Ökomarkt, wo wir uns lautstark und begeistert über die Anschaffung neuer Küchengeräte, Möbel oder Autos zu unterhalten hatten. Auf die Idee solcher „Maßnahmen zur sozialpsychologischen Nachfragestimulation" war vor ein paar Jahren der wirtschaftsdynamische Sachverständigenrat der Bundesregierung gekommen. Die Arbeitslosenzahlen waren damals über die 7-Millionen-Grenze gerutscht, also mußten mal wieder neue Lösungsvorschläge auf den Tisch. Seitdem gehören die NaSti-Maßnahmen zu den gemeinnützigen Tätigkeiten, die all jene aufgedrückt bekommen, die es wagen, Geld vom Amt zu beziehen.

Aber was bleibt ihnen anderes übrig? Wer solche Tätigkeiten ablehnt, bekommt nur noch einen kleinen Teil des ohnehin knappen ALG IV. Diejenigen, die ihr Leben gut organisieren können und die gelernt haben, auf beinahe alles zu verzichten, machen das vielleicht eine Weile mit. Die meisten treibt die Angst vor der Gosse jedoch dazu, auf dem Amt um die Zuteilung einer Tätigkeit zu bitten. Und wo sollen die die ganzen Jobs hernehmen? Genau an dieser Stelle schlug die große Stunde der Sachverständigen, die wie Pilze aus dem Boden schossen.

Klar, Wirtschaft ist ein komplexes soziales Phänomen, bei dem sich an vielerlei Stellen etwas bewegen läßt. Wenn man genug Kräfte dafür einsetzen kann. Nun können sie. Und sie tun es. Ob in der Nachfragestimulation oder an anderen Stellen. Es müssen ja nicht immer Autobahnen sein.

Ich bin noch froh, daß ich nur von Saftpressen und Beistelltischen künden muß ­ andere werden zur Wiederaufforstung der Uckermark eingesetzt, zur Bewachung der Olympia-Werbung im Stadtgebiet oder um Kaugummireste vom Gehweg zu kratzen. Aber das ALG IV einigermaßen zuverlässig auf dem Konto zu haben, ist vielen lieber, als sich vom Pfandwert gesammelter Zigarettenkippen zu ernähren.

Und man muß sagen, daß sie wirklich einen gelungenen Zeitpunkt für die erneute Verschärfung der ALG-Bestimmungen gewählt hatten: Unter dem ersten schwulen Bundeskanzler als großartigem Aushängeschild der Liberalität ließen sich restriktive und autoritäre Bestimmungen so gut wie nie zuvor umsetzen. Und wer will heutzutage noch zum Protestieren auf die Straße gehen, seitdem die Polizeieinsätze voll von den Demonstranten bezahlt werden müssen? Dann schon lieber da und dort gemeinnützig tätig werden.

Der Haken an der Sache ist, daß man wirklich viel zu tun hat mit den Jobs vom Amt. Ich zum Beispiel muß jetzt sofort weiter zum Training für die anstehenden Olympia-Einsätze, die mir zugewiesen wurden. Dort üben wir nationalfarbengerechtes Dekorieren, choreographiertes Fahnenschwenken und stundenlange Olé-Olé-Gesänge. Das ist natürlich wichtig, um ein positives Bild des Wirtschaftsstandorts zu vermitteln, sobald die Kameras der Weltöffentlichkeit wieder auf uns gerichtet sind.

Blöderweise bin ich zur Zeit auch noch mit den Fitneß-Anforderungen im Rückstand. Das heißt, daß ich dringend ein paar staatlich anerkannte Sportkurse brauche, um die Krankenversicherung nicht zu verlieren. Und ich kann Großmutter auch nicht immer das Schreiben der einzureichenden Bewerbungen aufdrücken. Sie hat schließlich auch einiges zu tun. Für eine halbwegs vollständige Auszahlung der Rente hat sie eine der Fensterbank-Maßnahmen angenommen: stundenlanges Hinausschauen auf die Straße, stets die Hand am Telefon, um Meldung über auffälliges Verhalten zu machen. Immerhin soll es jetzt weniger Graffiti geben ­ das ist ja auch wichtig für den Wirtschaftsstandort, sagt man.

Manchmal, während ich in der U-Bahn versuche, überzeugend von einem tollen neuen Mini-Van zu schwärmen, werde ich von Fahrgästen angesprochen, die das Spiel bereits kennen. „Gemeinnützig?" fragen sie dann nur, mit mitleidigem Blick. Als ob ich eine Wahl hätte ...

Tobias Höpner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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