Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Grenzen durchbrechen

Der Schweizer Musiker Jürg Bariletti hat in Stralau einen Ort für experimentelle Musik geschaffen ­ ein Gespräch

Allein der Weg vom Ostkreuz zum „STRALAU 68" ist ein kleines Abenteuer für sich und bereitet einen innerlich auf die Veranstaltung vor. Es geht vorbei an leerstehenden Gebäuden, aufgelassenen Lagerhallen und zwischengenutzten Industriebrachen. Auf dem löchrigen Kopfsteinpflaster müssen die Autos langsam fahren. Die holprigen Gehwege sind zwar breit, wirken aber wenig genutzt. Am Ende der kleinen Reise durch dieses zentral gelegene und doch „randstädtische" Berlin liegt der Veranstaltungsort STRALAU 68. Hier hat sich, neben dem „Ausland" in Prenzlauer Berg und der „Scherer 8" im Wedding in den vergangenen Jahren einer der wichtigsten Veranstaltungsorte für experimentelle Musik in Berlin entwickelt. Das STRALAU 68 ist in einem Flachbau untergebracht, mehr eine Art Schuppen mit Stahltüren. Es handelt sich um eine ehemalige Bahnkantine, die direkt an einer Straßenkreuzung neben den S-Bahn-Gleisen liegt. Der Charme des Improvisierten, den das Gebäude ausstrahlt, steht für das, was in ihm entsteht. Jürg Bariletti hat hier vor vier Jahren ein Studio für experimentelle Musik eingerichtet. Seit über drei Jahren finden aufregende Veranstaltungen im Grenzbereich zwischen Musik und darstellender Kunst statt. Bariletti, Jahrgang 1968, ist selber Pianist, aber auch Ideengeber, Organisator, Finanzier und künstlerischer Leiter in Personalunion. Er kam nach Berlin, weil ihm die Schweiz zu klein wurde.

Das STRALAU 68 ist übrigens auch über den S-Bahnhof Treptower Park zu erreichen. Dann muß man über die Elsenbrücke gehen und hat dabei einen schönen Blick auf den Osthafen. Das wäre die andere Möglichkeit, sich innerlich auf eine Veranstaltung im STRALAU 68 einzustimmen.

Das hier ist nicht gerade eine arrivierte Ecke für Kunst und Avantgardekultur. Warum hast du sie dir ausgesucht?

Daß ich hierher nach Alt-Stralau kam, war totaler Zufall. Ich kam nach Berlin, weil ich hier schon ein paar Musiker kannte, und somit war es leicht, mir hier eine neue Existenz und ein soziales Umfeld zu schaffen. Dann sah ich auf dem Stadtplan nach und kreuzte mir Zonen zwischen Industrie und Wohnen an. Ich wollte eigentlich nur ein privates Wohnatelier haben; einen größeren Raum für meine Flügel, um auch mit Leuten zusammen zu musizieren. Dann stieg ich aufs Rad und stand innerhalb der ersten drei Stunden hier auf dem Gelände. Das Gebäude stand leer. Ich war so frech, mir die Räumlichkeiten durch die Fenster anzuschauen. Zum Glück stand auf dem Areal jemand herum, der mir die nötigen Informationen gab. Es sah so aus, als ob dieses Gebäude schon mehrere Jahre leergestanden hätte. Das war alles ziemlich heruntergekommen.

Trotzdem, sich hier niederzulassen und eine Art Kulturinstitut zu gründen, dazu gehörte schon sehr viel Mut...

Das passierte nicht von heute auf morgen. Ich mußte lange auf den Entscheid, daß ich das wirklich mieten konnte, warten. Ich konnte aber nicht nur einen, sondern mußte die zwei großen Räume zusammen mieten. Deswegen kam ich dann auf die Idee, den größeren Raum für öffentliche Konzertveranstaltungen zu nutzen. Dann begann eine einjährige Umbauphase. Ich habe aufs Blaue hinaus angefangen, diesen Veranstaltungsraum zu renovieren und zu gestalten. Anfangs gab es weder Wasser, Strom oder Heizung. Diese Mängel behob ich alle in Eigenleistung, und bald konnte ich das erste Konzert veranstalten. Das hat sich sofort herumgesprochen in der Szene. Deswegen nahm es seinen ganz natürlichen Lauf. Zuerst spielten hier vor allem Berliner Musiker, Freunde, die ich in der Anfangsphase kennenlernte, frei improvisierte Musik. Das fing mit zwei, drei Leuten an, und mittlerweile sind es sehr viele Kulturschaffende, die hier vorbeikommen und Projekte machen wollen. Alles nahm seinen natürlichen Verlauf und ergab sich spontan.

Das klingt, als wärst du in diese Aufgabe hineingewachsen.

Das kann man so nicht sagen. Dies ist nicht das erste Projekt, das ich aufbaue. Ich habe schon in der Schweiz einen Veranstaltungsort aufgebaut, mit der gleichen Ideologie: Grenzen durchbrechen, Vorurteile abschaffen, sich auf etwas Unvorhersehbares einlassen. Das sind Grundsätze, die für mich zur improvisierten Musik dazugehören. Das ist eine Lebensart.

Was für ein Publikum findet sich zu deinen Veranstaltungen ein? Kommen Konzertbesucher aus der direkten Wohnumgebung hierher?

Das Publikum hier ist eine Mischung. Es gibt viele Musiker, die vorbeikommen, um sich den Ort anzuschauen, weil sie vielleicht selbst hier auftreten wollen. In dieser Szene gibt es pro Konzert ­ so schätze ich mal ­ vielleicht 60 bis 70 Prozent Musiker im Publikum, wie man sie in jeder Kunstszene vorfindet. Die anderen 20 bis 30 Prozent sind wirklich Leute, die sich überraschen lassen. Die ein musikalisches Erlebnis haben wollen. Ich finde es toll, wenn es keine Altersgrenzen gibt und sich die manchmal ein wenig elitären Szenen öffnen und durchmischen. Ich probiere mit STRALAU 68 diese bewußt aufzubrechen, vielleicht mehr als andere Veranstaltungsorte.

Du hast schon erwähnt, daß du dieses Gebäude auf eigene Kosten ausgebaut hast. Kannst du vom Konzertbetrieb leben oder gibt es Kulturinstitutionen, die deine Arbeit unterstützen?

Die auftretenden Künstler und Künstlerinnen bekommen bei mir 100 Prozent vom Eintritt. Ich finde das richtig so. Schließlich bin ich selber auch Musiker. Für mich bleibt der Umsatz an der Bar, aber der ist ziemlich mager. Da kommt man auf keinen grünen Zweig. Es war nie meine Idee, vom Konzertbetrieb leben zu können, denn es sollte ein unkommerzielles und gemeinnütziges Projekt sein. Da blieb nichts anderes übrig, als den Betrieb mit meinen Jobs, Theater- und Filmarbeiten sowie persönlichen Förderpreisen querzusubventionieren, damit solche Konzerte überhaupt möglich sind. Ich wäre froh, wenn ich mit meinem Konzept hier die ganzen Kosten decken könnte. Ich arbeite daran, daß das in Zukunft Wirklichkeit wird.

Gab es von Anfang an ein Konzept, das du umsetzen wolltest? Was war die Grundvoraussetzung, als du mit dem Konzertbetrieb begonnen hast?

Das Spezielle an diesem Ort ist unter anderem, daß er zwei Flügel zur Verfügung stellt, einen guten Bechstein und ein älteres Modell, welches sich auch für wilde Präparationen eignet. Hier eine Plattform zu bieten, wo man arbeiten kann, wo man Projekte entwickeln kann, dies soll das idealistische Ziel von STRALAU 68 sein. Einen Nährboden für experimentelle Musik anzubieten. Das gibt's viel zu wenig, das wird viel zu wenig gefördert; in jeder Stadt in Europa, in der ganzen Welt. Dagegen kämpfe ich schon immer an. Das hier ist schon ein einmaliger Ort. Es lohnt sich, dieses Projekt noch vier bis fünf Jahre weiterzuziehen. Das ist mein Ziel. Aber es ist sehr schwierig. Die Stiftungen und anderen Förderinstitutionen sind sehr knauserig und nicht sehr zahlungswillig. Daß ich hier an sieben Tagen in der Woche für dieses Projekt arbeite, auch wenn ich nur vier bis fünf Konzerte pro Monat organisiere, findet praktisch überhaupt keine Beachtung bei den Förderinstitutionen.

Ist es nicht frustrierend, auf finanziell so unsicherem Boden zu arbeiten?

Manchmal ja, aber trotzdem gibt es immer wieder Leute, die ähnliches machen. Pausenlos entstehen neue Orte, die leider häufig nicht langlebig sind. Die Szene ist unvergleichlich lebendig, da kann jederzeit in jedem Bezirk was entstehen. Eigentlich ist die In-Szene in Prenzlauer Berg und in Mitte. Da sind die bekannteren Orte, von denen einige Erfolg damit haben. Mir fallen auf Anhieb sieben bis acht Orte ein, die im Bereich experimentelle, improvisierte Musik arbeiten. Ich bin hier mehr an der Peripherie, aber mittlerweile kommen Leute von ziemlich weit her zu den Veranstaltungen. STRALAU 68 hat sich inzwischen ziemlich etabliert in der Szene, hat einen guten Ruf. Mittlerweile ist dieses Gelände hier ein gefragter Ort. Es kommen fast tagtäglich Leute vorbei und fragen, ob hier noch Räume frei sind. Vorher war das ein Niemandsland hier.

Interview: Michael Freerix

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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