Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Illustration: Juliane Pieper

Ne ripetu eraron ­ ja la elekto estas sufic´`e granda

Ein Sammelband würdigt die Esperanto-Kultur in Berlin ­ hauptsächlich auf Esperanto

Von den rund 1000 Plan- oder künstlichen Sprachen, die entwickelt wurden, ist Esperanto wohl die bekannteste, auch wenn – Schätzungen zufolge – nur 4- bis 20000 Menschen weltweit sie flüssig sprechen können. 1887 veröffentlichte der polnisch-jüdische Arzt Ludwik Lejzer Zamenhof den dritten Entwurf seines Buchs Internationale Sprache, um seinen Ruf fürchtend, unter dem Pseudonym Dr. Esperanto. Die Sprache fand im Osten Europas zwar relativ schnell eine gewisse Verbreitung, aber erst nachdem Volapük, eine weitere Plansprache, die von dem Konstanzer Pfarrer Johann Schleyer 1879 geschaffen worden war, wegen Streitereien unter seinen zahlreichen Anhängern Ende des 19. Jahrhunderts ihren raschen Niedergang erlebte, konnte Esperanto in Westeuropa – und auch in Berlin – Fuß fassen.

Jean Borel, ein Schweizer Journalist, gründete 1903 unter der Schirmherrschaft der Deutschen Friedensgesellschaft Berlins eine erste Esperanto-Gruppe. Um dies ­ und die hundert Jahre, die seitdem vergangen sind ­ zu würdigen, veranstaltete die Esperanto-Liga Berlin 2003 einen dreitägigen Kongreß in Berlin und Königs Wusterhausen, mit zahlreichen Gästen aus nah und fern ­ Grundlage für das zweisprachige Jubiläumsbuch Esperanto ­ Sprache und Kultur in Berlin 1903-2003, das vor kurzem im Esperanto Verlag Mondial erschienen ist.

In dem Buch werden viele Themen kurz angesprochen, ohne daß sie vertieft werden. Beispielsweise, daß West-Berliner Esperantisten „Zamenhoffeste" ihrer Sprachgenossen im Ostteil der Stadt besuchten und daß sie wegen ihrer Tagesvisa schnell zurückmußten. Aber mehr darüber erfährt man auch nicht ­ zumindest nicht auf Deutsch. Oder, daß 1932 in Berlin der Gründungskongreß der Internationalen Proletarischen Esperantisten, einer Abspaltung moskautreuer Kommunisten von der Arbeiter-Esperanto-Bewegung, stattfand.

Daß Esperanto und die Organisationen und Publikationen, die damit in Verbindung standen, sowohl von den Nazis als auch von den Stalinisten in der Sowjetunion verboten wurden, ist sicherlich keine Überraschung. Der Esperanto-Sprachunterricht in der Stadt, u.a. an der Neuköllner Rütli-Schule (in einem Stadtteil, wo die Sprache noch aktive Anhänger hat), mußte eingestellt werden. Aber die Aktivitäten des (nationalsozialistischen) Neuen Deutschen Esperanto-Bundes, gegründet von NSDAP-Anhängern, die unter anderem die Hilfssprache benutzen wollten, um die faschistische Ideologie im Ausland zu verbreiten, werden leider kaum angesprochen.

Mehr erfährt man von Erfahrungen in der DDR. Erst ab 1965 durfte Esperanto-Unterricht gegeben werden, u.a. in der heutigen Kulturbrauerei oder in der Volkshochschule Prenzlauer Berg, wo man bis zur Wende die Sprache lernen konnte. Durch die GDREA (DDR-Esperanto-Verband), Teil des Kulturbundes, wurden mehrere Sprachkurse angeboten, Wörterbücher, Zeitschriften, u.a. esperantist und Paco (Frieden), und sonstige Publikationen veröffentlicht. Sogar im Morgen, der Tageszeitung und dem Zentralorgan der Blockpartei LDPD, erschien wöchentlich eine Esperanto-Rubrik, seit 1965 bis zur Einstellung der Zeitung 1990. Die Serie begann als Sprachkurs und behandelte später Nachrichten und Neuigkeiten aus der „Esperantokultur".

Es gibt nicht nur Übersetzungen bekannter Werke der Weltliteratur, sondern auch Romane und Gedichte werden auf Esperanto geschrieben und verbreitet. Musik- und Theatergruppen sind in Berlin über die letzten 100 Jahre aufgetreten. Heutzutage können die Bücher und CDs einfach per Internet bestellt werden, in Berlin hat ein solcher Onlineladen seinen Sitz. Außerdem hat die Staatsbibliothek, im Haus Unter den Linden, eine wichtige Esperanto-Sammlung. Dazu gibt es sowohl Archive von Privatpersonen als auch die der Berliner Esperanto-Organisationen selber. Diese sollen in Zukunft in einem Haus im Lichtenberger Weitlingkiez, gleichzeitig Geschäftstelle und Veranstaltungsort der Deutschen Esperanto-Jugend, zu Forschungszwecken zugänglich gemacht werden.

In seinem Vorwort legt der Redakteur Fritz Wollenberg Wert darauf hinzuweisen, daß das Buch „keine Geschichte der Berliner Esperanto-Bewegung" darstellen sollte. Eher enthält es Geschichten, öfters persönliche Erinnerungen und Meinungen. Das ist die Stärke, aber auch die Schwäche des Bandes. Der Großteil des Buchs ist auf Esperanto, zu jedem Kapitel gibt es lediglich ein „Resümee" auf Deutsch (bzw. umgekehrt, falls der Beitrag doch auf Deutsch ist). Ein Inhaltsverzeichnis auf Deutsch fehlt.

Wenn Esperantosprecher unter sich sind, gelten die, die sich trotzdem ihrer Muttersprache bedienen, obwohl nicht alle diese Sprache können, als „Krokodile". Aber ein „zweisprachiges" Buch herauszugeben, das dann doch hauptsächlich auf Esperanto ist, zeugt auch von „krokodilhaftem" Verhalten. Fazit: ein Familienalbum, das neugierig auf mehr Information und vielleicht sogar auf die Sprache selber machen könnte. Wenn man, als Nicht-Esperanto-Leser, mehr davon verstehen würde.

Matthew Heaney

Fritz Wollenberg (Redaktion): Esperanto – Sprache und Kultur in Berlin 1903-2003. Verlag Mondial, Berlin, New York 2006. 19,80 Euro. Über die

Esperanto-Liga Berlin e.V. zu beziehen: lv.berlin@esperanto.de

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