Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sibirische Reise

Der russische Norden ist sagenumwoben: endlose Weiten, Winter und Gulag sind wohl die gängigsten Assoziationen. Andere wiederum bringen Schamanismus und Mystik, die heilenden Kräfte der Natur mit Sibirien in Verbindung. Nichts davon bei Barbara Engel, die an sibirischen Universitäten gearbeitet hat und in ihrem Buch Ortszeit Sibirien klischeefrei davon berichtet, wie das wirklich ist: in Sibirien zu leben und zu reisen.

Natürlich kämpft auch Engel gegen minus vierzig Grad, holt sich Frostbeulen auf dem Weg zur Uni ­ und die Sauna des Hotels muß zwei Tage vorher vorbestellt werden. Überhaupt: „In Rußland braucht es Geduld." Wenn der Computer zum Aufbau einer Internetseite ­ wie in der scheinschlag-Redaktion! ­ zehn Minuten benötigt, wenn sich ein Inlandsflug Stunde um Stunde verspätet, ...

Barbara Engel berichtet in ihren tagebuchartigen Momentaufnahmen aber auch von sommerlichen Badeausflügen an Flüsse und von der Feier zum „Tag des Bauarbeiters". Es sind die kleinen, unspektakulären Beobachtungen des fremden Alltags, die das Buch zu einer reizvollen Lektüre machen. Zu Kommentaren und Prognosen, wohin Putins Reich steuert, schwingt sich Engel nicht auf. „Rußland ist das Land ohne Verpackungen", konstatiert sie etwa, wundert sich über die Rolle, die „schwarze Bretter" noch immer als Informationsbörse spielen, oder stellt fest: „Lächeln hat in Rußland eine ganz spezielle Bedeutung. Jemanden, den man nicht kennt, auf offener Straße anzulächeln, ist nicht üblich, verletzt die Regeln des Anstands. Lachen ohne Grund wird als Anzeichen für Dummheit gewertet."

Nicht der geringste Reiz des Buches sind die Fotos. Sie zeigen merkwürdige Wohnheime und Denkmäler, Märkte – und, ja, auch die weite sibirische Landschaft.

Hans W. Rust

Barbara Engel: Ortszeit Sibirien. metroton, Berlin 2005. 8,90 Euro

www.metroton.de

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