Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

31. August bis 27. September

Kehraus in märkischen Sommerfrischen. In Woltersdorfer Schleuse geleitet uns der Vorsitzende des Verschönerungvereins persönlich durch den grünen Wald, der sich terrassenförmig um das Seeufer aufbaut. Die Spitze der Kranichberge ziert der Kaiser-Friedrichturm, der einen wunderhübschen Lug ins Land bietet. In diesem Sommer ist er von 36000 Personen besucht worden. Da jeder Besucher 10 Pf. Eintrittsgeld zahlt, ergibt sich eine stattliche Einnahme für Wegeverbesserung, neue Brücken usw. Die Anlagen, Waldwege und Straßen Woltersdorfs zeigen allenthalben die Hand liebevoller Verwaltung.

Reizend ist die Villenstraße am Seeufer. Inhaber sind meist Fabrikanten aus Berlin O., die eine tägliche Bahn- und Wasserfahrt nicht scheuen, um ein Stückchen Land zu pflegen. Grund und Boden sind teuer geworden. Woltersdorfer Schleuse steht daher im Zeichen der beständig ausverkauften Sommerwohnungen. Schon im März ist gewöhnlich alles fest vermietet. Die Saison wird allenthalben höchlich gelobt. Der Passantenverkehr von Berlin ist noch im Steigen begriffen.

Am Seeufer schaukeln an einem Nachmittage dieses glorreichen Sommers nicht weniger als vierzehn Berliner Dampfer, die hochgeschätzten „Kaffeedampfer", die ein erholungbedürftiges Publikum, zumeist Damen, gebracht haben. Die Restaurants genügen hohen Anforderungen und sind nicht nur für den Massenverkehr, sondern auch für ein verwöhntes Publikum eingerichtet. Im Dorfe Woltersdorf, zu dem die Schleusenbrücke hinüberführt, sind die Preise billiger als in dem hoch gelegenen Teil am Seeufer, dessen Bewohner der Lokalwitz „Schleusen-Tiroler" getauft hat. Während wir durch die Dorfstraßen schlendern, bricht ein Unwetter los. Der Flakensee scheint schwärzlich gefärbt und wirft hohe Wellen, ein Föhn scheint im Anzug. Zwei Minuten später hissen wir unsere Flagge an Bord des kleinen Kreuzers „Neptun", der uns sicher nach Erkner bringt.

Dort werden wir von den Droschkenkutschern bewundert, als wir erklären, auf der Stelle nach Fangschleuse und Umgegend fahren zu wollen. Unter strömendem Regen geht es hinaus. Bei der Brücke über die Löcknitz klart sich das Wetter auf. Sonnenschein glänzt auf dem Spiegel des lieblichen Flusses, der es sich wohl nicht hatte träumen lassen, daß er jemals ein Motorboot mit begeisterten Touristen tragen werde. Wald und Wiese leuchten in hellem Strahl. Aus der Ferne weht der Wind den Glockenton der weidenden Herde herüber, klingt die Sense des Schnitters, der das Heu mäht. Vorüber! Schon nimmt uns der Forst auf, schweigsam und ein wenig düster. Aber die Sonne findet auch hier ihren Weg.

Der Herr Gemeindevorsteher von Fangschleuse nimmt sofort die Karte zur Hand, um uns die politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gemeinde Werlsee zu erklären: „Sieben Kolonien bilden ein Einheitsgebiet: Fangschleuse, Gottesbrück, Bergluch, Grünheide, Alt-Buchhorst, Klein-Wall, Schmalenberg. Wir sind eigentlich eine Vorstadt von Berlin, denn Berliner Sommergäste haben wir genug, so viel, daß wir sie manchmal beim besten Willen nicht unterbringen können. Überall Wald in der Nähe und die prachtvollen Seen! Wir liegen an drei Seen, dem Werl-, Peetz- und Möllnsee, einer schöner als der andere. Ohne Unbescheidenheit darf ich sagen, daß wir alles tun, um unseren Gästen das Leben angenehm zu machen. In der Hauptsache sind es mittlere Berliner Beamte, aber auch sehr begüterte Leute finden sich ein. Es wird allmählich für alle Ansprüche gesorgt. Namentlich Grünheide und Alt-Buchhorst werden recht komfortabel. Eine rege Bautätigkeit ist zu verzeichnen. In diesem Sommer sind 38 Neubauten, durchweg Villenstil, in Gang gekommen. Undankbar wären wir, wenn wir nicht der Dampfschiffahrtgesellschaften gedenken wollten, die uns neuerdings eine direkte Verbindung mit Erkner und Berlin ermöglichen, und des stetig wachsenden Ruderbootsports, der uns immer neue Gäste zuführt!"

Ein Freund der sieben Gemeinden nimmt als weiterer Erklärer aller Schönheiten in unserem Wagen Platz. Wir bereisen das ehrliche Fangschleuse, herzlich, ländlich und einfacheren Ansprüchen genügend, und umkreisen auf gutem Landwege den Werlsee seiner ganzen Ausdehnung nach. Auf dem sanft bewegten Spiegel wiegt sich ein Lastkahn, zwei Männer sitzen im Boot und machen sich in dem Rohrdickicht zu schaffen, das weit in den See hineingeht.

Falko Hennig

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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