Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sinnesrausch, Klischeeüberdosis, Realitätsabsturz

Berliner U-Bahnlinien (IV): die U 1

Kurt Cobain sitzt vor mir. Er ist schmächtig und lispelt. Diese enge schwarze Hose, diese Chucks, diese fettigen blonden Haare – ich bin verliebt. Das Glitzern des Spreewassers unter der Oberbaumbrükke spiegelt sich in seinen verhangenen Augen. Ich schwebe quietschend den Gleisen entlang im Grün.

Gepunktetes und Gestreiftes ­ überall auf Hemdchen und Höschen ­ machen mich nervös. Ruhe finden meine Augen nur auf den schneeweißen Turnschuhen mit Klettverschlüssen. Klettverschlüsse ­ Kindheitstraumata kommen hoch. Ich wollte richtige Turnschuhe mit Schnürsenkeln. Aber sie waren rosa mit Klettverschlüssen, Schuhgröße 40.

Ein dickes Baby mit einem „I love Beirut"-T-Shirt. Friedlich leckt es sein übergroßes Vanilleeis. Auf dem Bildschirm, kleingedruckt: 1017 Tote und ein paar zerquetschte Verletzte. Die schleckenden Laute des Babys tun mir in den Ohren weh ­ sie hören sich an wie Maschinengewehre. Das Grün der Babyhose tut mir in den Augen weh ­ Farbe der Hoffnung, wo keine Hoffnung ist. Ich male mir aus, wie das Baby in seiner grünen Hose auf den grauen Trümmern Beiruts herumkrabbelt. Sein Vanilleeis wurde von einer Kugel getroffen, das rote Herz auf dem T-Shirt nicht.

Er quetscht sich neben mich, drückt mich an die Wand. Ich spüre seinen wuchtigen Körper, er riecht nach Schweiß und nach Armut. Mit der will ich nichts zu tun haben. Doch sie drückt mich an die Wand und spricht mit mir. Ich muß sie einatmen. Oh, Zahlen auf dem Bildschirm, Bilder von verbluteten Kindern ­ kommt zurück und rettet mich. Mit euch fühle ich, mit euch leide ich, mit euch verurteile ich die Gleichgültigkeit meiner Mitreisenden. Doch diese Armut, die mich an die Wand drückt, will ich nicht. Sie ist so nah, und sie stinkt.

Der rote Apfel berührt ihre Lippen. Sie öffnet ihren Mund in Zeitlupe und beißt ab. Die Frau mit dem Apfel sieht verdammt sexy aus. Sinnlich, genießerisch, verführerisch. Ich will so sein wie sie: Einen Apfel essen und die Welt um mich herum vergessen. Kottbusser Tor auf Milchglas zieht an mir vorbei.

Kleiner Junge: „Mama, wieso gibt es tagsüber keine Sterne?" ­ Mutter: „Weil die Sonne zu hell scheint." ­ Kleiner Junge: „Macht die Sonne die Sterne kaputt?" ­ Mutter: „Nein, guck mal, dein Leuchteband zu Hause leuchtet doch auch nur, wenn es dunkel ist. Genauso funktioniert es mit den Sternen." ­ Kleiner Junge: „Ich will aber immer die Sterne sehen." ­ Mutter: „Dann mußt du später, wenn du groß bist, nachts arbei-ten."

Das Licht bricht sich auf der Häuserfassade des cremefarbenen Altbaus, Farbbeutelflecken zieren eine dreckige Wand. Ich gucke raus, in die Balkone und Fenster rein, sehe fremdes Leben, Familienidylle. Ich gucke runter, sehe fremdes Fleisch, fette Bäuche und Rippchen auf der Wiese des Prinzenbades. Das Gelb der Domäne läßt mir die Galle hochkommen, der Coffee-to-go-Becher auch ... und dann diese weißen Socken in braunen Sandalen ... und wieso ziehst du deine Hose bis über den Bauchnabel?

„I want to be a Moviestar." Ja, ich auch, doch du arme dicke Frau wirst es noch viel weniger werden als ich. Wieso verkündest du es auf deinem T-Shirt? Ich weine mit dir vor dem offenen Kühlschrank in die Schüssel Crème Brulée von Aldi.

Papa redet mit seinem Sohn und läßt alle wissen, daß er heute schon den ganzen Tag mit ihm unterwegs war: im Streichelzoo im Görlitzer Park, auf dem Markt am Paul-Lincke Ufer, einen Kinder-Döner hat der Kleine auch bekommen. Ja, wir sind stolz auf dich, daß du dir Zeit genommen hast und sie mit deinem Kind verbringst. Wir sind dir zu höchstem Dank verpflichtet. Was würden wir ­ was würde Deutschland ­ ohne solche selbstlosen, aufopferungswilligen Väter wie dich tun!

Das monotone, leise Summen des Zuges beim Halten beruhigt mich. Das Mädchen mit der Trommel steigt ein und setzt sich. Selig lächelt sie die kniehohe Trommel zwischen ihren Cordschlaghosenbeinen an. Meditativ streichelt sie über den rot-gelb-grünen Batikbezug. Sie kommt gerade aus dem Kurs „Afrikanischer Ausdruckstanz", denn die Menschen in Afrika tanzen so schön, sind so natürlich und fröhlich, lachen den ganzen Tag und leben so viel entspannter als wir. Die Trommel hat sie in einem Workshop selbst gebaut. Der Duft des indischen Rosenverkäufers erlöst mich. Ich atme tief ein und frage mich, wie die Haut des Mädchens mit den goldenen Turnschuhen und der goldenen Handtasche unter der braunen Tusche atmet.

Die Tür schnellt fast zu, doch der Ehrgeiz des Radlerjünglings war größer. Old-School-Rennrad, grün-gelbe Pumas, orange-braune DDR-Sportjacke. Er zieht die taz aus der regenfesten Fahrradtasche, schiebt sich den Ingwer-Nuß-Riegel aus dem Reformhaus in den Mund. Die Biotomaten grinsen mich gesund vom Gepäckträger an, zwinkern mir zu und flüstern, ich solle doch nicht so streng mit ihrem Herrchen sein: Er tut doch sein bestes, alternativ durch und durch zu sein.

Leggingsbeine in bestickten Ballerinaschühchen mit Schleifchen und knappem Jeans-Mini tänzeln an mir vorüber. Ihr Vokuhila umschmeichelt die großen H&M-Creolen und fällt seicht in den Rükkenausschnitt ihres weiten Oberteils. Mir ist schlecht. Ich muß raus an die frische Luft.

Ein langgezogenes „Schaaatz" läßt mich zusammenzucken und erstarren. Ich bin wie gelähmt und kann nicht aussteigen. Sie tragen Goretex, sind für den Großstadtdschungel gewappnet. Unauffällig tragen sie Ihr Hab und Gut in einer beigen, schmalen Bauchtasche. Sie schmiegt sich wie eine zweite Haut an ihre Fettrollen. Sie sind Ende dreißig, kommen aus Westdeutschland und verbringen ein Wochenende voller Abenteuer und Romantik in Big Berlin. Hat Knallhart sie auf die Spuren des Multikulti-Gangstertums in Neukölln gebracht oder das Musical Afrika, Afrika – die Exotik und Lebensfreude des fremden Kontinents?

Drei Mädels mit drei Eimern Farbe geben mir Hoffnung ... WG-Leben ... Doch dann sehe ich ihre Fotos über der Spüle in der WG auf einer Pappuhr hängen, die die Zuständigkeiten des Spüldienstes auf unverkrampft lockere Art aufteilt ... meine Hoffnung schwindet.

Ein putziges Rentnerpaar schaut verdrossen vor sich hin. Wie konnten eure Falten so identisch geometrisch eure Oberlippen runterziehen und an eure Unterlippen heften?

Blonde Dreadlocks schlängeln sich quer durch den Wagon zu mir herüber, winden sich um meinen Hals, kitzeln mich und schnüren mir die Luft ab.

Uhlandstraße. Ich muß hier raus, ich muß an die frische Luft. Mir ist schlecht ...

Pary El-Qalqili

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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