Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sechs Millionen verstehen unseren Humor

Die SPD eröffnete den Wahlkampf mit einem Familiensommerfest

Wer allzeit bereit stets Obacht gibt, dem wird es gewiß nicht entgangen sein: Es baumeln wieder Köpfe an den Laternenpfählen! Und das nicht in einem weit entfernten Schurkenstaat, wo fiese Schurken allerlei Menschenrechte mit fußpilzigen Füßen treten, weil ihnen die Demokratie keinen Pfifferling wert ist. Nein, diese Laternenpfähle stehen mitten in Berlin. Denn in Berlin, der „Visitenkarte Deutschlands" und dem „Schauplatz der föderalen Vielfalt und unserer lebendigen Demokratie" (SPD-Programm 2006-2011), herrscht derzeit Wahlkampf.

Wahlkampf ist die Klimax demokratischer Leidenschaft. Aber wie so oft, wenn es um Leidenschaft und Höhepunkte geht, habe ich davon erst einmal gar nichts gemerkt. Eine Bekannte mußte mich erst darauf aufmerksam machen. Sie flüsterte mir schelmisch ins Ohr: „Hast du auch diese Plakate gesehen, auf denen irgendwas davon steht, daß sechs Millionen Menschen unseren Humor verstehen?" Nach all den Deutschlandfähnchen während der Fußball-WM witterte ich sofort eine besonders perfide Form der Geschichtsklitterung, die dem neu erwachten Party-Patriotismus Deutschlands entsprang. Aber besagte Bekannte hauchte mir sogleich ins andere Ohr, daß es hier nicht darum ginge, gewisse Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte als zwölf Jahre währende Fanmeile darzustellen. Vielmehr handle es sich um eine Wahlwerbung der SPD, die sich damit brüstet, daß letztes Jahr mehr als sechs Millionen Touristen nach Berlin kamen.

Nachdem sich mein großes antifaschistisches Herz ein wenig beruhigt hatte, schloß ich aus dieser Bemerkung messerscharf, daß wohl Wahlkampf sein müsse. Als politisch mündiger Bürger fragte ich mich jedoch sofort, ob sechs Millionen Berlin-Besucher eigentlich ein Verdienst der SPD seien. Wären weniger Touristen nach Berlin gekommen, wenn es einen CDU-Bürgermeister gegeben hätte? Hätten harte amerikanische Burschen Berlin für die Achse des Bösen gehalten und wären zuhause geblieben? Wären schicke Japanerinnen nach Falkensee, Bernau und Königs Wusterhausen gefahren, keinesfalls jedoch nach Berlin-Mitte? Hätten argwöhnische Argentinier, grummelnde Grönländer, irritierte Israelis und melancholische Malteser sich angewidert abgewendet von der Visitenkarte Deutschlands? Und wären traurige transsilvanische Transen in Tränen ausgebrochen, weil unser Wowi sie beim CSD nicht persönlich hätte begrüßen können?

Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie diese hochbrisanten Fragen nun letztlich zu beantworten seien, war mein Interesse an der deutschen Sozialdemokratie geweckt. Und so strich ich im Auftrag der vorliegenden Stadtzeitung am 19. August durch den Rudolph-Wilde-Park am Rathaus Schöneberg, während sich jeder auch nur halbwegs politisch denkende Mensch im Ostteil der Stadt den Nazis entgegenstellte, die wieder einmal die alte Mumie Rudolf Heß hochleben lassen wollten.

Ich jedoch war jetzt tief im Westen, da wo sich Schöneberg und Wilmersdorf schon fast „Hallihallo" sagen. Und wie so oft im Westen gab es auch diesmal nichts Neues, sondern nur das SPD-Familiensommerfest, das für die Genossen und ihre Sympathisantenszene die heiße Phase des Wahlkampfes einläuten sollte. Während ich darauf warten mußte, daß der foto- und telegene Spitzenkandidat seinen vorsitzenden Problembären Kurt auf die Bühne zerrte, vertrieb ich mir die Zeit damit, Runden im Park zu drehen und neugierig das sozialdemokratische Biotop Berlins zu studieren.

Links und rechts des Weges waren lustig anzuschauende Marktstände aufgebaut, und die Luft war rostbratwürstchenschwanger. Hier befestigten hochmotivierte Mitglieder der SPD Steglitz-Zehlendorf noch schnell ein paar tolle rote Luftballons, die die Stimmung gewiß ungemein anheizen würden. Dort schlugen sich Genossinnen der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen" zur Begrüßung zärtlich aufs Gesäß und kicherten dabei so verschämt wie ein Haufen 50jähriger Grundschullehrerinnen, die zum Zwecke der gemeinsamen Selbstfindung gerade einen Körperbemalungskurs belegen. Und die wilden Jungsozialisten der Jusos und Falken hatten gar eine Pinnwand aufgestellt, auf der oben zu lesen stand: „Herr Wowereit, ich wünsche mir ...". Hier konnte der lebendige Demokrat jetzt föderale Vielfalt wagen und ein Polaroid von sich anbringen, verbunden mit handschriftlichen Wünschen, die an den Regenten Berlins gerichtet waren. Das ist Demokratie, keine Leidenschaft ist wie sie! Bei all diesen verrückten Einfällen der jungen Leute wollte die „Arbeitsgemeinschaft 60 Plus" natürlich nicht nachstehen, und so zauberte die sozialdemokratische Seniorentruppe flugs einen großen Kasten mit einem Schlitz hervor, auf dem zu lesen stand: „Hier können SIE entscheiden!!!" Tja, da sieht man wieder einmal: Was die Jungen an brodelnder ungestümer demokratischer Leidenschaft in sich tragen, macht der gereifte Liebhaber der Demokratie durch Erfahrung wett.

Besonders gut gefiel mir der Stand des SPD-Reiseservices. Deshalb möchte ich ihn hier als eindeutigen Höhepunkt des großen SPD-Familiensommerfestes preisen. Denn, was viele gar nicht wissen, die SPD ist ja nicht so sehr eine politische Partei, sondern vor allem ein Reisebüro. Nachdrücklich möchte ich auf die SPD-Gruppenreise „Politisches Malta" vom 15. bis 22. November ab 732 Euro pro Person (Halbpension) hinweisen. Und auch die SPD-Gruppenreise „Zwischen Zarathustra und Schia", die vom 14. bis 28. Oktober für nur 1830 Euro in den Iran führen wird, will ich hier lobend hervorheben. Obgleich ich bisher nie mit dem Gedanken spielte, der Berliner Sozialdemokratie bei der kommenden Wahl meine Stimme zu schenken, wurde ich angesichts dieser Angebote für einen kurzen Moment schwach. Die Idee, daß ein Reisebüro Berlin regiert, war einfach zu verlockend. „Konsequent Berlin" eben.

Dieser kleine Schwächeanfall war jedoch schnell vergessen, nachdem der gutfrisierte Spitzenkandidat zusammen mit Problembär Kurt endlich seine Kleinkunstdarbietung auf der Hauptbühne begann. Wowi hielt den Reifen gestrichener Kita-Gebühren hin, und der vorsitzende Bär sprang mitsamt seines unansehnlichen Sportsakkos anstandslos hindurch. Sodann verfielen beide in die übliche Verbalakrobatik, die man schon aus Zirkus, Funk und Fernsehen kennt. Das war wenig erbaulich. Ich habe diesen Humor noch nie verstanden. Mein politisches Malta sieht anders aus.

Thomas Hoffmann

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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