Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Im Reich der Mitte

Nach der Lektüre Tu Fus geht Menschenkind hinaus in den Obstgarten, erstmal eine Karo rauchen. Mitten in Berlin ist er im Reich der Mitte. Was der Berliner schnöde mittenmang nennt, dabei aber keineswegs an die Chinesen denkt mit ihrem Reich der Mitte, das ist für Menschenkind jetzt im Moment das Paradies. Ob sie sich, die pfiffigen Chinesen, wohl für den Mittelpunkt der Welt gehalten haben? Nach all den Erfindungen wie beispielsweise Papier oder Porzellan oder Schießpulver, könnten sie es wahrlich geglaubt haben, diese freundlichen Dauergrinser. Haben das Papier geschaffen, was ja Menschenkinds Leibnahrung ist, am liebsten würde er all die Zeitungen fressen. Nur welche schmeckt ihm schon?

„Östlich von mir, westlich von mir, reifer Sommer", säuselt Ditte, die Besonnte, deren Ausschnitthaut tiefbraun ist, so ein V am Hals und sonst wie Milch und Blut, doch davon später ...

„Wieviel tiefer als anderswo ist die Dämmerung im eigenen Garten", ergänzt der aufgeräumte, entspannte Menschenkind Dittes Worte, die aber scheint's gar nicht an ihn gerichtet waren. Ein bißchen schwer wird ihm sein Herz, auch weil er ja keinen eigenen Garten hat, was ihn aber auch ein bißchen freut, denn was müßte er da nicht alles tun, und jetzt will er wirklich nur ausruhen. Müde ist er, schon zur Ruhe gegangen. Aber was ist nur mit Ditte los, der Frau, die doch einmal an seiner Seite ging? Zielstrebig geht sie an ihm vorbei zu einem der Platzhirsche, die hier in diesem Garten irgendetwas zu feiern haben, vielleicht ihren Wahlsieg oder den Börsengang, jedenfalls etwas ganz ganz Bedeutendes. Schließlich hat ja auch Menschenkind ein Glas in der Hand; weil er ein solches in dieselbe gedrückt bekam, als er den Garten betrat, diesen scheinbar chinesischen.

„Vögel fliegen auf der Suche nach einem Zuhause kreuz und quer über den Rasen", ruft Ditte ziemlich laut in die Menge, ja wahrhaftig, es sind ganz schön viele gekommen, alle mit einem Glas in der Hand und so einem schwachsinnigen Lächeln im Gesicht, dem Lächeln von Fanatikern oder dem Dauergrinsen des fabelhaften Chinesen aus dem Bilderbuch der Klischieranstalt. Der eine von den beiden Platzhirschen, die hier den Ton anzugeben scheinen, schreitet erst und dann fliegt er gar auf Ditte zu mit den Worten: „Während die Nacht wie ein kleines Boot heranweht", und dann nimmt er sie direkt vor Menschenkind, der Luft zu sein scheint, in die Arme, küßt ihr zart den Nacken, was ja eigentlich seine, Menschenkinds, Spezialität ist. Er muß sich endlich etwas einfallen lassen. Und was kommt ihm da über die Lippen? „Tag für Tag werd ich mir selbst nutzloser. Einer Drossel gleich husche ich von einem Ding zum nächsten. Worauf soll ich mich freuen mit 54? Morgen ist dunkel. Der Tag nach Morgen ist noch dunkler." Was ist das nur für ein Gestammel? Woher kommt das bloß? Und warum hängt Ditte so hingegeben am Arm des athletisch gebauten Gastgebers? Der geht ganz direkt, sehr frontal, auf Menschenkind zu, Ditte an seiner Seite, tritt Menschenkind wer weiß wohin und kommentiert dessen Schmerzenschrei: „Die Himmelhunde winseln." Immerhin.

Und was sehen Menschenkinds entzündete Augen? Glühwürmchen schleppen Abendstille aus dem feuchten Grass. In den Tumult der Welt, in das alltägliche Chaos ­

„Geh, geh nur", fordert Ditte, die weiterhin durch Menschenkind hindurchschaut, und da fällt er von der Liege. Das Radio läuft ­ eingeschlafen ist er bei der Literatursendung ­, da werden heute Gedichte aufgesagt! Das soll ihm aber schon was mitteilen, oder? Er muß Ditte anrufen und sich endlich wieder bei ihr einkratzen. Vielleicht mit einem Band Gedichte, oder er lädt sie zur Dreigroschenoper ein, die mit der toten Hose, vielleicht könnten sie auch mal in die Hackeschen Höfe gehen ­ oder er lernt jetzt das Gedicht auswendig, was ihm das Radio ins Unterbewußtsein gesendet hat. Ein Glück, daß er ein Freund der Poesie ist, der auch manche Lyrikmail erhält, die er gleich mal anklickt, und siehe, da liest er zwischen dem ganzen Müll: „Nach der Lektüre Tu Fus gehe ich hinaus in den Obstgarten..." (Charles Wright)

Brigitte Struzyk / Dieter Kerschek

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