Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Ja, kuck ma', jetzt wird alles wieder grüne Wiese"

I Gute Stube, Gestern. Berlin, Mitte/Wedding

Es ist immer noch heiß an diesem Juniabend. Drinnen, im Weddinger Lichtburgforum, wird die abgestandene Luft langsam unerträglich.

Auf dem Podium sitzen ein paar sonnengebräunte ältere Herren und finden den Potsdamer Platz gelungen. Der Architekt Hans Kollhoff (der mit den Lochfassaden), der dort auch gebaut hat, sagt gerade zufrieden: „Wenn man da durchgeht, ist das Stadt. Man ist in Berlin." Der blasse Mann neben ihm war früher mal Regierender Bürgermeister und lobt sich selbst für die „bewußte politische Entscheidung für die europäische Stadt". Dann fältelt Eberhard Diepgen die Beine übereinander und blickt ebenfalls sehr staatstragend.

Die harmonische Veranstaltung ist dem sich in den Ruhestand verabschiedenden Senatsbaudirektor Hans Stimmann gewidmet: Ihm zu Ehren hat der Tagesspiegel gemeinsam mit der Senatsverwaltung ein dreiteiliges „Architektursymposium" anberaumt, um Stimmanns Best Ofs noch einmal öffentlich abzufeiern. Teil 1: Potsdamer Platz, Teil 2: Friedrichstraße (prima Traufhöhe), Teil 3: Pariser Platz. Im Vorfeld kursierten Spottmails: „Kleiderordnung: Bronze und Granitsockel!"

Und ewig grüßt Hans Stimmann: Im Lichtburgforum hat man das Gefühl, in einer Zeitschleife festzuhängen, die seit 15 Jahren die frühen 90er repetiert. Es sind immer dieselben Namen: Kollhoff, Diepgen, Ephraim Gothe (der Organisator von der Senatsverwaltung). Gerwin Zohlen ­ der Publizist, der ebenfalls gern von der Senatsverwaltung angeheuert wird, wohl weil er im Gegenzug wenig unangenehme Fragen stellt ­ moderiert und stellt sich dafür gleich als „der letzte unabhängige Architekturkritiker" vor. Niemand lacht. Auch nicht bei seiner einleitenden Androhung, man habe „über einiges Weltmeisterliches zu reden".

Irgendwann aber muß selbst das eigentlich brave Publikum feixen, und irgendwann wird es selbst Zohlen zu blöd. Als nämlich Kollhoff feststellt, daß in Westberlin Mangelwirtschaft geherrscht habe und Diepgen sekundiert: es sei ein „Gerücht, daß im alten Westberlin immer nur Geld ausgegeben worden sei." Und als der frühere Chef des Potsdamer-Platz-Investors debis, Hans-Jürgen Ahlbrecht, klagt: Jeder habe beim damals ins Leben gerufenen Stadtforum mitreden dürfen und „dieses Bürgerforum entschied darüber, was gebaut werden soll" ­ bloß die Investoren durften nicht! Ahlbrecht guckt ein bißchen beleidigt, als Zohlen sanft korrigiert: Das Stadtforum hatte keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern sei installiert worden, um „Bürgerbeteiligung zu kanalisieren".

Schnell besinnt sich die Runde wieder auf den eigentlichen Anlaß der Feierstunde. Lobt den weltmeisterlichen Stimmann, Stimmanns Arkaden, Stimmanns „europäische Stadt" als „Kampfbegriff gegen Megastrukturen und anonyme Kapitalmassen". Niemand lacht. Fluchtartig stolpert man aus der stickigen Luft ins Freie und wird die seltsame Vorstellung nicht los, daß soeben ein paar Untote zwei Stunden lang den mit dem Leerstand ringenden Potsdamer Platz als Rettung der europäischen sowie der Innenstadt abgefeiert haben. Kollhoffs Stimme noch im Ohr, der die Verdienste des Senatsbaudirektors zusammenfaßt: „Heute ist jedem in Berlin klar, was die Mitte ist, was ein Haus ist, nämlich eine Adresse. Die Idee mußte erstmal in die Köpfe gebracht werden. Es hatte ja keiner eine Vorstellung von Haus."

II Tapetenwechsel Heute. Rennebogen, Magdeburg-Olvenstedt

„Ich glaube, in diesem Haus hat meine Freundin gewohnt." „Damals wurden erst die Häuser gebaut und dann die Wege." „Das Schönste waren die Menschen hier." „Unser Jüngster war gerade geboren, Kindergarten und Schule waren in unmittelbarer Nähe. Die Kinder konnten so schon in der 1. Klasse allein zur Schule gehen." „Man wohnte in Olvenstedt ­ das war dann schon ein bißchen 'ne Adresse." „So um 1995, 1996 hab ich immer gesagt: Im Rennebogen brauchste keinen Fernseher, da machste einmal das Fenster auf und Licht aus und kuckst raus. Da haste dann das Leben pur."

Der Rennebogen, ein Straßenzug im Magdeburger Stadtteil Olvenstedt, wurde Mitte der 80er geplant ­ als „Experimentalwohngebiet". Dem miesen Ruf der „Schlafstädte", der diversen Plattenbausiedlungen in der DDR anhing, wollte man begegnen mit vielfältigen Wohnungsschnitten und großzügiger Infrastruktur: mit Läden, Spielplätzen, Kultur- und Dienstleistungsangeboten.

1989 zogen die ersten Mieter ein. Zu einem Zeitpunkt, als sich eine verhängnisvolle Spirale in Gang setzte: der Großteil der DDR-Industrie verschwand von der Landkarte, die Geburtenzahlen sanken schlagartig um 70 Prozent, die einen flüchteten vor der Arbeitslosigkeit in den Westen, die anderen, die noch Arbeit hatten, nahmen erstmal die Eigenheimzulage in Anspruch. Und Skinheads begannen, durchs Gebiet zu marodieren.

„Das war 'ne schlimme Zeit, wo man nicht wußte, ob man die Kinder noch draußen spielen lassen kann." 1997 erstachen Rechtsradikale in Olvenstedt den Punk Frank Böttcher. Mehr und mehr Mieter verließen den Rennebogen.

Nach der Jahrtausendwende stand über die Hälfte der Wohnungen leer. Die Stadt entschloß sich nach harten Debatten mit den Anwohnern zum flächendeckenden Abriß von 1500 Wohnungen. Zwei Künstlerinnen ­ Susanne Ahner und Frika Duwe ­ haben das Geschehen dokumentiert. Sie haben die ehemaligen Bewohner besucht und interviewt, deren Erinnerungen und Geschichten auf Band aufgezeichnet, den Abriß fotografiert und aus den leergezogenen Wohnungen Tapetenreste mitgenommen, die sie zu einem Buch banden. Die Tondokumente und das Tapetenbuch haben sie den Olvenstedtern geschenkt, das „Erinnerungsmöbel" gehört nun der Magdeburger Stadtteilbibliothek, jüngst war es in Berlin zu sehen, in einer Ausstellung in der Weddinger Otto-Nagel-Galerie.

Beide Künstlerinnen kommen aus dem Westen. Sie sagen, sie hätten erst begriffen, wovon die Leute sprachen und weshalb sie gern dort gelebt hatten, als sie selbst in dem Viertel wohnten, um ihr Projekt zu machen.

Strukturtapeten, Glitzertapeten, Rauhfasertapeten. Tapeten mit Pferden, mit Blümchen, Streifen, Karos, mit Milchkrug- und Kaffeetassenmuster, mit Kastanienblättern.

„Im Flur hatten'se uns als Rache Millimeterpapier drangemacht. Und zwar dunkelgrünes." „Am Tage war's ruhig, sind ja fast alle arbeiten gewesen." „Man ist ja nicht nur in der Platte gewesen, man war ja sofort draußen, wenn man so will."

Asterix-Tapeten, Ziegelstein-Imitationen, Teddys in Autos, Katzen und Mäuse.

„Da haben wir ja auch noch 12000 Wohnungen gebaut. Da waren wir froh, wenn überall Tapeten dran waren. Jetzt reißen wir 6000 ab. Ooch schön." „Eener hat da noch gewohnt im ersten Stock, Nr. 3. Das war das Haus, wo wir immer abhingen, die Nr. 3. Jemand hatte ‚Janine, ich liebe dich' rangesprüht."

Wolkentapete und Delphine, ganz in Blau. Der Magdeburger Oberbürgermeister, der selbst im Rennebogen wohnte: „Ich sage ganz hart und auch deutlich, daß dieses Thema nicht lösbar ist. Man kann so einen Stadtteil, der ja gemischt war ­ also hier haben ja Professoren mit Straßenfegern gewohnt ... diese Entmischung hat stattgefunden und die ist auch nicht mehr umkehrbar, und die kann man auch mit nichts aufhalten. Weil die überall stattfindet."

Der Stadtteilmanager: „Ich hab das halt nur so leer erlebt und von daher ist es mir nicht so schwer gefallen zu sehen, wie ein Block leergezogen wird. Weil, ich hab's auch nicht mehr erlebt, jetzt in dem Sinne: vollbezogen. Ich hab diese Schicksale auch nicht mehr miterlebt, dieses Rausmüssen, dieses Weggehen. Von daher fällt es mir natürlich leicht zu sagen, finde ich toll. Also generell als Fazit: Ja, Abriß, toll ­ weil, ich seh's jetzt einfach nur aus einer rein ästhetischen, persönlichen Perspektive."

Ein Kind: „Ja, kuck ma', jetzt wird alles wieder grüne Wiese. Das ist denn ooch Scheiße. Weil da kommt ja kein Spielplatz hin."

„Letztens, da hab ich durch ein Fenster gesehen und gedacht: Och, guck mal. Der blanke Osten, hat noch keiner."

III Neuland Morgen. Berlin-Hellersdorf

Wo in Berlin der blanke Osten beginnt, ist schwer zu sagen. Womöglich schon auf dem nun fast abgeräumten Schloßplatz in Mitte, vielleicht auch am Lichtenberger Tierpark beim McDonald's-Kasten, oder erst außerhalb des S-Bahn-Rings hinter dem letzten Hellersdorfer Plattenbau, von dem aus man auf Kornfelder blickt. Auf die Idee, das zum exklusiven „Hat noch keiner"-Trend auszurufen, ist bislang niemand gekommen.

Vor dem U-Bahnhof Cottbusser Platz in Hellersdorf steigt sanft ein grasbewachsener Hügel an, dahinter beginnen die Plattenbauten. Ein jugendliches Pärchen, ein Mann mit Hund, leise Musikfetzen, Vogelstimmen, Ballgeräusche, Lachen. Eine hellerleuchtete U-Bahn, Linie 5, Endstation Hönow, rauscht vorbei. Dreht man sich um, sieht man hinter wilden Brachen den Horizont, orangefarbene Dämmerwolken treiben über einen großen, weiten Himmel. Die unsanierten Fassaden und die leeren Fenster zweier Punkthochhäuser signalisieren, daß sie auf der Abschußliste stehen.

Auch in Hellersdorf stehen viele Wohnungen leer, gibt es immer weniger Kinder. Wo es weniger Kinder gibt, braucht man weniger Kindergärten, Schulen, Häuser. Sie werden abgerissen. Die leeren Flecken breiten sich wie Masern auf dem Stadtplan aus. Es muß ja nichts Schlimmes sein. „Das Schöne an Hellersdorf ist doch gerade, daß nicht alles zugebaut ist", sagt J.

Das fanden die Hellersdorfer auch, als sie herzogen. Aber wie ist das, wenn die Schule abgerissen wird, in die man das eigene Kind mit der Zuckertüte im Arm begleitet hat, das inzwischen in Dresden oder München lebt, weil es da noch Arbeit gibt? Wenn ringsherum alles erst immer überflüssiger und dann immer weniger wird? In den letzten zwei Jahren sind allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf 75 Kindergärten und Schulen abgerissen worden, bis 2009 sollen weitere 50 folgen. Die Masern: Das sind dann über 100 Hektar Fläche.

Auf einem Hügel lagert ein bräsig-schwerer Klotz ­ ein pinkfarbener, dreidimensionaler Pfeil, dessen Spitze schroff auf den Boden weist. Daneben wehen rosa-weiße Fahnen. Sie markieren Neuland.

„Neuland" heißt eine Aktion des Bezirksamts Marzahn-Hellersdorf, die weniger eine Flucht nach vorn ist denn ein Bekenntnis zur Ratlosigkeit. Die Flächen, die nicht mehr gebraucht werden, werden nun freigegeben: für „Zwischennutzungen", an interessierte Initiativen, Bürger, Vereine. Man kann dort Schafe oder Tomaten züchten, Fallschirmspringen, Fußballspielen, beten oder den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. So lange, bis mal irgendwann jemand kommt und dort ein Altenheim hinbauen will. Die rosa-weißen Fahnen, Pfeile, Gehwegmarkierungen weisen auf diese Brachen hin. Das Bezirksamt hat eigens eine Koordinierungsstelle eingerichtet, um den potentiellen Züchtern und Sportlern zügig Masernflecken vermitteln zu können. Allerdings nicht zum Nulltarif. Wer in Berlin Neuland erobern will, muß löhnen: zwischen 50 Cent pro Quadratmeter und Jahr bei bezirkseigenen Flächen und 50 Cent pro Quadratmeter und Monat bei landeseigenen Flächen, die durch den Liegenschaftsfonds verwaltet werden ­ Berlin verschenkt nichts. Zahlungskräftige Designer oder Strandbars kommen nicht her, und hiesige ukrainische Autoschrauber oder potentielle Schafzüchter können keine 3000 Euro im Monat für 6000 Quadratmeter zahlen. Die Aktion ist neu, das Dilemma das alte.

Immerhin: Das sympathisch-offene Bekenntnis zur Ratlosigkeit hat das Bezirksamt Hellersdorf-Marzahn jenen alten Männern vom Potsdamer Platz voraus, denen bis heute ihre Ratlosigkeit nicht bewußt geworden ist. Womöglich wird man sie irgendwann mumifiziert aus ihrer guten Stube am Pariser Platz klauben. Und wie immer werden alle Zeitungen klagen, warum sich niemand mehr um die Alten in der Nachbarschaft kümmert.

Ulrike Steglich

 
 
 
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