Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wider die Huldigung des Subjekts

Über den Zusammenhang von Utopie und Metaphysik

Daß Utopie vom Einzelnen immer Opfer und Verzicht verlangt, ist keine unumstrittene These. Sie stammt von einem anerkannten Autor. Der Mensch kann nur Mensch sein ohne Utopien, sagen die Gegner – und sie meinen sicherlich Resignation. Dann gibt es den Ausspruch eines anderen Zukunft-Denkers, daß der wahre Pessimist natürlich der Optimist sei, da eine gute Ausgangsposition für ihn a priori eine potentiell sich verbessernde Entwicklung impliziert, und der sich hinterher darüber ärgert, daß alles doch besser geworden ist, als er selbst es theoretisch voraussah. Die positiven Utopien wurden nach diesem Denkschema ausnahmslos von Pessimisten verfaßt. Der überwiegende Teil der Schöne-Neue-Welt-Literatur erwies dagegen Praktikern oft gute Dienste. Diese können sich umso besser in fortschrittlicher Gegenwartsentwertung üben, je mehr Fiktion von Zukunft ihnen geliefert wird. Mutige Futuristen ersetzen heute Schwarzmaler ersten Ranges. Das wirkliche Leben, die wirkliche Evolution negiert kleine Sensoramata für Gefahr, setzt dagegen auf Aufklärungsschriften über besseres Denken. Wenn der einzelne Autor nicht mehr existiert, sondern funktioniert, sieht vielleicht endlich der ganze Textinhalt besser aus, liefert Antworten und Botschaften statt unproduktiv Fragen zu provozieren, zu zweifeln.

Botschaft Nr. 1: Die Machtübernahme durch den Computer ist nicht aufzuhalten, wir brauchen bessere Computer, da nur sie allein noch unsere gigantische Informationsperipherie verwalten können. Antwort Nr.1: Die Sterblichkeit läßt sich immer weiter hinauszögern, manche sagen, die Sterblichkeit sei gar kein Naturgesetz, sehen sie sich nur die Mikroorganismen an, sie leben praktisch ewig. Utopisch aufladen heißt doch: Sterblichkeit, Erinnerung, Geschichte, all das, was das Subjekt ausmacht, in ein fernes, abstraktes Kontinuum zu transzendieren ­ kurz: Löschen aller individuellen Spuren durch Fiktion ­ wer nicht lebt, der stirbt auch nicht. Untergang des Kommunismus, Untergang des Kapitalismus, Untergang der Religion, diese Untergänge sind von Gestern, der Trend geht zur vollkommenen Annihilation des Subjekts, da könnt ihr alle mittun, jede/r kann einen kleinen Beitrag leisten. Höre auf mit dir selbst zu reden, höre auf, dich mit dem Schnee von Gestern zu beschäftigen, tue etwas, werde aktiv ­ vergiß alte Kategorien von Kunst und Politik. Es geht um mehr, es geht nicht um deinen literarischen Code, es geht um unsere Zukunft, unsere gemeinsame Progression in ein kollektiv gerechteres System, kein kunstvolles Gedankenmodell, sondern eine Struktur des Handelns, der Macher und der Macherinnen.

Vergessen ist revolutionär! Psychoanalyse ist Kunst! Sie erhebt deinen persönlichen Code zu einem Blumenstrauß, zeigt dir, wie schön du aussiehst, wenn du eingebunden bist. Vor wem mußt du dich fürchten, wenn du nicht weißt, für wen du schreibst? Existiere, have fun! Sterben ist etwas für entartete Künstler, Langeweiler, die den Zweck der Futurologie nicht einsehen können. Dein Code soll klar sein ­ ungestört, unschuldig, universell und eindeutig. Zweideutigkeit ist den Sterblichen vorbehalten, deren Todestrieb ihr Geständnis ist: Sie wollen nicht erkennen, sie wollen nur stören, sich und andere betäuben. Sie haben keine Namen, die stark und klar sind, sie strecken die Waffen vor Gewalt und Schmerz. Politik soll den Machern überantwortet werden, nicht den Tätern, den Künstlern, die genau wissen, wie die Dinge wirklich beschaffen sind, wie sie in der Realität funktionieren, die diese Dinge einfach nur „beherrschen". Die Politiker, die Wissenschaftler und Manager spielen dagegen ironisch mit den Strukturelementen, setzen die Realitätspartikel neu zusammen, heben die Realität partiell auf. Die Gesellschaft braucht ihren gesunden Willen, er ist entscheidend für die Lösung des Gegenwartsproblems. Politik muß wieder eine Gefahr für das Bestehende werden, mit Realität zu spielen ist eine konstituierende, friedenswichtige Maßnahme zur Erhaltung der Realität. Der Annihilismus macht Politik wieder zum Kulturgut, möchte sie wieder fruchtbar und wirksam machen, indem er sie in den Code der Antiindividualität überführt, wo sie Schönheit und Vitalität wiedererlangt.

Eine Redaktion sollte ebenfalls politisch handeln, indem sie Autoren nicht mehr mit sich selbst sprechen läßt, stattdessen die Schwerkraft der Nostalgie aufhebt, Funktionsschemata generiert, die Realität wieder auf jene Stufe hebt, die ihr gebührt, der positiven Utopie ­ der Zukunft immer zugewandt. Sie sollte das Design dieser Zukunft nicht den Amateuren überlassen, denn das Design der Realität schafft erst deren Tiefe, erschüttert die Gegenwart im Zentrum, erzieht zum Loslassen vom Überkommenen, vom Alten. Die Oktoberrevolution war eine schlechte Performance, denn sie war von Emotionen geprägt, dem schlechten, alten Todestrieb verpflichtet, und aus ihr entstand eine Diktatur der Sterblichen über die Todesfürchtigen, eine religiöse, im Grunde dem jüdisch-christlichen Erlösungskult huldigende Gesellschaftsform. Diese metaphysische Basis führte schon viele Revolutionen zum Scheitern. Solange dem Subjekt gehuldigt wird, kann keine Superökonomie im Sinne des Annihilismus entstehen, solange der Messias erwartet wird, wird es keine antiindividuell-codierte gerechte Lebensordnung geben. Eine Rezession in der Wirtschaft schafft nicht die Grundlage für ein System der Zukunft ­ schließlich entwickeln weder die Armen noch die Reichen ein gerechteres System aus Mitleid.

Daß Gott tot ist, ist heute ­ als allgemeine Bewußtseinsgrundlage ­ schon ein Fortschritt, daß das Subjekt aber zum Wohle aller endlich sterben müßte, dieser Gedanke hat sich leider noch nicht durchgesetzt. Wo das Subjekt verschwindet, dort entsteht Staat. Oder mit den Worten des großen Annihilators: Mit Individuen kann man keinen Staat gründen. Lassen wir uns auf dies neue Experiment ein, setzen wir die Welt einer allumfassenden Evolution des Selbst aus, verlassen wir das Stummfilmzeitalter der Metaphysik. Die bürgerliche Gesellschaft basiert auf dem Individuum, basiert auf dem Schema von gutem und bösem Subjekt. Eine freie Gesellschaft ohne Subjekt wird eine Gesellschaft ohne das Böse sein. Wir grenzen uns nicht länger ab, wir negieren die Geschichte. Eine freie Gesellschaft emanzipiert sich vom Einzelnen, alles, was für einen Menschen gilt, gilt für alle Menschen, Mann und Frau eingeschlossen. Liebe ist eine Metapher für das Bewußtsein zum Code. Gemeinsamkeit ist nicht länger eine Phrase, die Invasion des Einzelnen kann morgen beginnen.

„Ich" ist der Code, „Du" gab es nie, nunmehr wird „Du" immer nur zu „Wir" gehören.

Jörg Gruneberg

 
 
 
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