Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
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Schnitzeljagd

Deutschland präsentiert sich als „Land der Ideen"

„Nirgendwo pfeift es wie hier", entfährt es dem Reiseführer Land der Ideen auf Seite 349. Konkret kann man das einzigartige Pfeifen am 20. Oktober in dem Städtchen Waldkirch hören, das „seit 200 Jahren Dreh- und Jahrmarktorgelmetropole" bzw. „deutsche Orgelhauptstadt" ist. Hier findet nicht nur das internationale Orgelfest statt, sondern auch die „Orgel-Schlemmerwoche", und „natürlich sitzt auch die Orgelstiftung hier", nicht zu vergessen die Tatsache, daß sogar „eine lustige Mitmachorgel" auf Japanreise zur Expo 2005 ging. Fazit des Reiseführers: „Waldkirch hat Ideen und Zukunft."

Und genau darum geht es der von der Bundesregierung sowie der Wirtschaft getragenen und vom Bundespräsidenten beschirmten Initiative „Deutschland ­ Land der Ideen": Klarzumachen, daß das angst- und sorgengebeutelte Deutschland nicht nur Exportweltmeister, Exportweltmeister und nochmal Exportwelt-meister sowie PISA-Loser ist, sondern tatsächlich und eigentlich ein Hort der „Innovation und Kreativität" (Wolfgang Schäuble). Gleich einem tröstlichen Ganzjahres-Weihnachtskalender für deprimierte Erwachsene wartet der begleitende Reiseführer bundesweit mit 365 Veranstaltungen auf, die von dem atemberaubenden Ideenreichtum des Landes zeugen sollen: So kann man am 12. Ju-ni im Berliner Botanischen Garten auf Schnitzeljagd gehen, am 12. August in Trier dem Römerspektakel „Brot und Spiele" beiwohnen, am 27. August badische Weine in Breisach verkosten oder am 5. September den „Phantastischen Karpfenweg" in Kemnath begehen.

Nein, es ist nicht alles albern, was das „Land der Ideen" zu bieten hat. Es ist im Grundsatz gut und wichtig, daß sich Forschungseinrichtungen, Bildungsinstitutionen und Betriebe der Öffentlichkeit vorstellen, daß Kommunen ­ die oft finanziell bereits mit dem Rücken zur Wand stehen ­ ihre Museen und Denkmäler, ihre Kulturschätze und Landschaften präsentieren, auf große und kleine Initiativen und das nicht unbeträchtliche Bürgerengagement verweisen. Wahr ist: Genau das macht den (immateriellen) Reichtum eines Landes aus. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang durchaus, sich beispielsweise den Stadtumbau in der thüringischen Kleinstadt Leinefelde anzusehen, wo sich ein Bürgermeister samt einer Handvoll kommunaler Mitstreiter beherzt und mit imponierenden Resultaten dem ostdeutschen Schrumpfungsproblem gestellt hat, als noch niemand das Wort in den Mund zu nehmen wagte. Wahr ist auch: Es hat sich meist als sinnlos erwiesen, auf Lösungen „von oben" zu warten.

Aber genau deshalb ist diese Initiative samt Reiseführer („nur 9,95 Euro") auch so schwer erträglich: Während Millionen Menschen ausgegrenzt werden, indem ihnen beispielsweise der Zutritt zum regulären Arbeitsmarkt verwehrt bleibt, versuchen Staat und Wirtschaft auf der anderen Seite, dieselben dazu zu bewegen, die Ursachen für ihre Position am unteren Rand der Gesellschaft bei sich selbst zu suchen. Patriotismus-Kampagnen wie „Du bist Deutschland", Bücher wie Florian Langenscheidts Das Beste an Deutschland. 250 Gründe, unser Land heute zu lieben und eben auch Land der Ideen stehen für eine Politik, die bei eigenem Rückzug die Verantwortung gern „dem Bürger" in die Hand drückt ­ wenn auch nicht das Geld oder die Entscheidungsmacht. Nicht erst seit der letzten Wahl empfehlen Medien- und Meinungsmacher, die sich ihre PR-Arbeit gut bezahlen lassen, denjenigen, denen es nicht gut geht, nach Merkelschem Vorbild die Mundwinkel nach oben zu zerren und sich in Optimismus zu üben. Deutschland, so die Message, habe eigentlich keine Probleme außer Miesmacherei.

Nirgendwo pfeift es wie hier.

Ulrike Steglich

 
 
 
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