Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Solange die Tassen noch im Schrank sind

In Lichtenberg legt ein Senioren-Wohnprojekt los

Der Wille zum bewußten gemeinsamen Wohnen im Alter führt die sechs lebenslustigen Menschen an diesem Sonntag im April zusammen. Sie treffen sich im „Piekfeinen Laden", einem Gemeinschaftsraum direkt gegenüber dem Haus, das sie Anfang nächsten Jahres beziehen wollen. Von hier aus haben sie einen guten Blick auf das Gelände und die grünenden Bäume. Das fünfstöckige Haus in der Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg ist grau und hat viele eingeworfene Fensterscheiben. Bis zum Einzug muß noch einiges verändert werden, doch die zukünftigen Bewohner haben den nötigen Willen, viele Ideen und bringen das gestalterische Können für die Renovierung mit.

Bei duftendem Kaffee und selbstgebackenem Rhabarberkuchen sprechen sie über ihren Plan, eine Hausgemeinschaft zu gründen. „Man sollte die Zukunft regeln, wenn man noch alle Tassen im Schrank hat", meint Horst. Alle stimmen ihm zu, denn ein Leben im Altersheim kommt für keinen der Anwesenden in Frage. Selbstbestimmt wollen sie bleiben, und zwar in Gemeinschaft. „Es ist zum Kotzen, alleine zu sein", sagt Werner Clemens, der gelernte Landwirt und studierte Tierarzt. Der 70jährige Berliner kann aus seinem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. „Ich bin neugierig geblieben. Ich bin nicht nur ein Pflanzen- und Tier-, sondern auch ein Menschenkenner!" Jetzt möchte er seine Kenntnisse und Erfahrungen mit seinen Mitmenschen teilen: „Wenn man noch kann, sollte man auch für andere da sein. Denn schließlich ist das Glück doch ein Abfallprodukt einer nützlichen Tätigkeit." Er lacht, lobt den Kuchen und freut sich sichtlich darüber, Teil des Projekts zu sein.

Am Tisch sitzt auch eine Frau mit roten Haaren, die nicht in die Hausgemeinschaft einziehen wird. Brigitte Schumacher hat im Jahre 2004 den Verein „Gemeinsam Wohnen als bewußte Lebensgestaltung" gegründet. Aus ihrer Erfahrung als Psychotherapeutin weiß sie, daß sich viele Menschen im Alter vom Leben ausgeschlossen fühlen. „Altersheime tragen zu Vereinsamung bei." Das bewußte gemeinsame Wohnen hingegen hat viele Vorteile. Es „bedeutet, den Alltag zu teilen, zusammen zu faulenzen, zu musizieren, zu kochen, ganz einfach das zu tun, was einem Freude und Anregung bereitet. Und es bedeutet auch zueinander zu stehen, wenn ein Mensch aus der Gemeinschaft krank wird oder stirbt."

Bis jetzt kommen die Alten gut miteinander aus. Sollten jedoch Konflikte auftreten, wird Schumacher die Gruppe als Außenstehende betreuen. Sie ist von Anfang an dabei, denn die Gründungsphase ist wichtig für den Team-Spirit. Schumacher warnt: „Konflikte und Situationen, sich in die Haare zu kriegen, gibt es immer". „Wenn man noch welche hat!", erwidert Werner scherzend. Er weiß genau, daß Gemeinschaft nur funktioniert, wenn jeder genug Raum für sich hat: „Ältere Männer und Frauen haben ihre Verträglichkeitszeiten. Sie sind schon mit dem Unrat der Vergangenheit bekleckert."

Karin hat Sohn, Schwiegertochter und den gerade mal acht Wochen alten Enkel mit an den Tisch gesetzt. Sie werden nicht mit einziehen. „Früher", sagt Karin, „gab es noch die Großfamilien. Alle unter einem Dach". Doch sie ist sich bewußt: „Die alten Zeiten sind vorbei. Da muß man sich der Realität stellen."

Auch dem Wohnort, Lichtenberg, muß man sich stellen. Im Bezirk ist Rechtsradikalismus gerade unter den jungen Leuten verbreitet. Das macht einigen Sorgen, andere meinen, daß sich die Gemeinschaft gerade wegen dieses Umfeldes bemühen muß, offen in Erscheinung zu treten. Schumacher spricht von einer Strahlkraft, die auf den Bezirk überspringen und die Bewohner neugierig machen soll. Werner würde die Zusammenarbeit mit Jugendlichen sogar gefallen, denn „die Rechtsradikalen leben ja nicht im luftleeren Raum. Die haben ja auch Omas und Opas."

Auffallend bunt wird das Haus werden. In Zusammenarbeit mit einer Architektin soll der Hof erweitert und begrünt, die auf ihm stehenden Garagen abgerissen und ein Wintergarten angebaut werden. Auf dem Dach werden Solarzellen montiert, das Regenwasser für die Klospülung wird aufgefangen, und Lebensmittel sollen vorrangig aus biologischem Anbau eingekauft werden. Die zukünftigen Bewohner sind an der Projektentwicklung, bei der Planung und der Verwaltung beteiligt. Die Miete zahlt jeder aus eigener Tasche. Da die Taschen nicht voll genug sind, wird ein Kredit bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) aufgenommen. Für die Instandsetzung des Geländes hat das Bezirksamt Lichtenberg finanzielle Unterstützung angekündigt. „Wie schön, daß die grünen Bäume kostenlos sind", meint Horst.

Idealerweise soll sich das Wohnprojekt auf zwei Häuser ausweiten und Familien anlocken. Die unterschiedlichen Generationen könnten sich gegenseitig bereichern, hofft Werner und fügt hinzu: „Vielleicht ist sogar der einzige Sinn des Lebens, seine Erfahrungen an die Jüngeren weiterzugeben, damit sie etwas damit anfangen können. Das ist kein Ersatz für das eigene Erleben, aber zumindest ein kreativer Ansatzpunkt."

Hannah Maria Gritschke

www.bewusstgemeinsamleben.de

 
 
 
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