Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Tanz um das goldene Kalb

Das Eigentum genießt in westlichen Gesellschaften einen hohen Stellenwert

Als John Ross 1818 in der kanadischen Arktis zum ersten Mal Kontakt mit Eskimos hatte, machte er eine befremdliche Beobachtung: Nachdem die erste Zurückhaltung einmal abgelegt war, griffen die Gäste seines Schiffs ganz unbefangen nach allem, was ihnen gefiel und brauchbar schien, um es einfach mitzunehmen. Nicht nur besaßen sie keine Mythen und konnten nicht weiter als bis fünf zählen, sondern auch Eigentum war ihnen gänzlich unbekannt.

Dieser Umstand mußte Ross sehr verwundern, denn Eigentum war bis dahin zu einem zentralen Bezugspunkt europäischer Gesellschaften geworden. Obwohl es in dieser Zeit nicht überraschend gewesen wäre, wenn er ihnen implizit das Menschsein abgesprochen hätte, begegnete er den Eskimos mit Respekt. An irgendeinem Zeitpunkt der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hatte man nämlich begonnen, Freiheit mit Eigentum gleichzusetzen, ja: Freiheit als direkte Folge von Eigentum zu bestimmen. John Locke ist der Repräsentant dieses Denkens, das „Besitzindividualismus" genannt wird und das Dilemma der heutigen Wirtschafts- und Sozialordnung beschreibt: den Zielkonflikt zwischen der Freiheit des politischen Bürgers ­ des Citoyen ­ und des wirtschaftenden ­ des Bourgeois.

Wer heute den Vorrang des Eigentums vor allen anderen Freiheitsrechten begründet und den Vorrang des Marktes vor staatlichen Regulativen, wird „neoliberal" genannt. Wer die Apologeten des Marktes kritisiert, lehnt umgekehrt nicht automatisch die Marktwirtschaft ab, was auch angesichts ihrer wohltätigen Wirkungen unklug wäre. Die Kritik, die sich nicht in einer Utopie verloren hat, richtet sich vielmehr gegen eine Lesart von Marktwirtschaft durch den Besitzindividualismus, die den Gemeinwohlanspruch derselben unterschlägt. Sie versucht, die Marktwirtschaft gegen einen falschen Freund und einen falschen Feind zu verteidigen: Auf der einen Seite stehen die Westerwelles, die seit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus Oberwasser haben, auf der anderen die Marxisten, die ­ inzwischen seltener geworden ­ ebenfalls ein Zerrbild der Marktwirtschaft zeichnen. Die einen arbeiten an der Abschaffung der Demokratie durch Verherrlichung des Besitzes, die anderen begründen ihre Gegnerschaft mit dem ­ unzutreffenden ­ Verweis auf eben jene Feinde einer recht verstandenen freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung.

Dieser Umklammerung zu entkommen und den inneren Zusammenhang zwischen politischer und ökonomischer Freiheit aufzuzeigen, wäre eigentlich die tägliche Aufgabe von Demokraten. Ob sie ihr auch gerecht werden? Martin Kriele hat den Zusammenhang zwischen dem Recht auf Eigentum und einer am Gemeinwohl orientierten Wirtschaftsordnung so ausgedrückt: „Zwar kann die Marktwirtschaft den Verfassungsstaat nicht legitimieren, aber wer überhaupt den Sinn für Freiheit hat, ist im allgemeinen sowohl den ökonomischen als auch den politischen Begründungen für Freiheit gegenüber aufgeschlossen."

Der Konflikt zwischen den Interessen des „Citoyen" und denen des „Bourgeois" hat sich auch in der gegenwärtigen Rechtsordnung der Bundesrepublik niedergeschlagen. Das Dreigestirn, um das sie kreist, besteht aus dem Rechtssubjekt, dem Eigentum und dem Vertrag. Denn das Eigentum garantiert in dieser Sichtweise eben doch bürgerliche Freiheit, inkarniert sich geradezu darin. Fast alle Teilbereiche der Rechtsordnung haben zum Ziel, Eigentum zu schützen. Wobei die ursprüngliche Klarheit und Einfachheit inzwischen durch zahlreiche Einschränkungen durchbrochen worden ist, was bei der Sozialbindung des Eigentums in Artikel 14 des Grundgesetzes beginnt und dem Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht aufhört.

Sollte die These vom „Zusammenprall der Kulturen" zwischen westlicher und islamischer Welt zutreffen, dann wird in dem unterschiedlichen Stellenwert, der dem Eigentum zugemessen wird, ein zentraler Grund zu finden sein. Im Gegensatz zum abendländischen (d.h. christlichen, aber auch säkularisierten) Denken wird im Islam dem Eigentum eine geringere Rolle zugewiesen: Es wird nicht aus der Idee der Menschenrechte hergeleitet und mit ihr verknüpft, sondern lediglich toleriert. „Der Islam erkennt Eigentum natürlich auch als Privateigentum an. Die feinste Form des Eigentums sind dabei die Stiftungen, also Eigentum, das dauerhaft ,Allah' zugeeignet wird", heißt es auf einer Website. Wer diesen Unterschied nicht zur Kenntnis nehmen möchte – wie augenscheinlich die US-Regierung, aber nicht nur die –, wird auch den Haß islamistischer Terroristen auf den Westen nie verstehen.

Hat es in der DDR ein anderes Verständnis von Eigentum gegeben? Man kennt noch die „volkseigenen" Betriebe, weiß, daß der Mittelstand nachhaltig vernichtet worden ist (mit den heute ersichtlichen fatalen Folgen für Ostdeutschland, und allem Anschein nach wird der Westen bald folgen, wenn die Entwicklung so weitergeht). Jedoch von einem qualitativen Unterschied zu sprechen, erscheint etwas kühn, denn auch der DDR ging es lediglich um eine Neuorganisation des Eigentums, keineswegs um seine Abschaffung.

Niemand wird die Orientierung westlicher Gesellschaften auf das Eigentum ändern können. So bleibt einem nicht viel übrig, als den Stellenwert, den es genießt, zu respektieren. Ist ja vielleicht auch nicht ganz schlecht, denn positiv gewendet gehört die Unterscheidung zwischen dein und mein zur Persönlichkeitsentwicklung dazu. Deshalb kommt es vor allem darauf an, sich frei zu machen von dem Zwang, immer mehr, mehr, mehr besitzen zu wollen und zu erkennen, daß Eigentum auch belasten kann. In Zeiten der totalen Marktwirtschaft sind sowieso die am subversivsten, die sich dem Tanz um das goldene Kalb einfach entziehen.

Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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