Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Vorpostengefechte eines allgemeinen Krieges gegen das Eigentum"

Die „Diebstahltheorie" von Wilhelm Weitling

Dem Hungrigen von Aufklärung predigen ist Unsinn. Vor allem also muß den Darbenden die Befriedigung ihrer Bedürfnisse werden, und darum müssen wir damit anfangen, dem Proletarier den Respekt vor dem Eigentum auszutreiben, ihn gegen das Geldwesen revolutionär zu machen, ihm einzuprägen, daß er kein Verbrecher ist, wenn er aus Notdurft eher stiehlt als bettelt oder darbt, sondern ein braver Kerl.

Wilhelm Weitling

Seit Anfang der 90er Jahre sieht man auch in Deutschland wieder vermehrt typische Zeichen einer Armutsökonomie. Bettler können nicht mehr allein deshalb mit einer milden Gabe rechnen, weil sie einfach nur ihre Not bekunden und die Hand aufhalten. In der größer werdenden Konkurrenz innerhalb der Unterklassen ist heute schon etwas Phantasie gefragt. Der eine hält einem bei Karstadt die Tür auf, ein paar Punks putzen an belebten Kreuzungen Autoscheiben und andere tun so, als ob sie Zeitungen verkaufen und erzählen rührselige Geschichten in der U-Bahn. Und selbstverständlich nimmt im Zeichen immer neuer Sozialkürzungen auch die Zahl der Eigentumsdelikte stetig zu.

Es ist wohl nicht so bald mit Hungerrevolten zu rechnen, wie es sie zuhauf gab, als Wilhelm Weitling in Europa sein Unwesen trieb, zu Beginn des 19. Jahrhunderts nämlich, als die Menschen in die Städte strömten und als das Industrieproletariat entstand. Einige Parallelen zur damaligen Zeit gibt es aber dennoch. Zum Beispiel wandern auch heute Tausende auf der Suche nach dem Glück in die Metropolen des Nordens, nur kommen sie diesmal aus Afrika, aus Lateinamerika oder aus Osteuropa. Und auch damals schon wurden nicht alle sozialen und politischen Kämpfe vom Standpunkt der Lohnarbeit aus geführt.

Weitling war einer der ersten, der so etwas wie eine kommunistische Utopie entwarf. In seinem Erstlingswerk Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte pries er im Auftrag des „Bundes der Gerechten", der Vorgängerorganisation des „Bundes der Kommunisten", vor allem die Vorzüge von Gütergemeinschaften. Wie der bekannte französische Schriftsetzer Pierre-Joseph Proudhon hielt auch Weitling Eigentum für Diebstahl. Die soziale Revolution, auf die er setzte, sollte ein „Krieg gegen das Eigentum" sein. Dabei griff er den Widerstand der Unterklassen in seiner ganzen Breite auf und hatte eine durchaus realistische Einschätzung der Klassenzusammensetzung des Frühproletariats. Das bestand nicht nur aus zu Arbeitern degradierten Handwerkern, sondern genauso aus Vagabunden, Huren und allerlei Diebsgesindel. Während die Mehrheitsströmung der aufkommenden Arbeiterbewegung auf ein Bündnis mit der Bourgeoisie setzte, der das Eigentum heilig war und ist, bestand Weitling auf der Einheit der Unterklassen und nahm die Kämpfe des „Lumpenproletariats", denen Lohnerhöhungen schnuppe waren und die stattdessen auf die direkte Aneignung dessen, was gebraucht wurde, zielten, genauso ernst wie die Streikbewegungen der Industriearbeiter.

Weitling propagierte insbesondere die Verallgemeinerung des Diebstahls, in dem er „kleine Vorpostengefechte im Krieg gegen das Eigentum" sah. Wenn es ein „stehlendes Proletariat" gebe oder sich auch nur „20000 mutige pfiffige Kerle" gezielt als Diebe oder Räuber betätigten, wäre die endgültige Beseitigung des Eigentums nicht mehr weit. Die junge Generation, die Zeitung des Bundes der Gerechten, die von Weitling geleitet wurde, veröffentlichte deshalb seit 1843 regelmäßig in einer Rubrik „Scenen vom Kriegsschauplatz" neben Beiträgen, die der Analyse von Arbeiteraufständen gewidmet waren, eine aus englischen und französischen Zeitungen zusammengetragene Übersicht über die Zunahme der Armutsdelinquenz, über Bettelei, Eigentumskriminalität, Bandendiebstahl, Plünderungen und Hungerunruhen.

Ob die von Weitling angestrebte Ausweitung von Eigentumsdelikten aller Art tatsächlich das Eigentum selbst in Frage stellen würde, ist aber zweifelhaft. Geht es dem Dieb doch meist darum, selbst Eigentümer zu werden. Die Unterklassen in ihren Bedürfnissen und ihren kriminellen Machenschaften ernst zu nehmen und nicht einfach in Bausch und Bogen zu verdammen, könnte aber auch für eine heutige soziale Bewegung noch überaus wichtig werden. Erstens sind organisierte Jugendbanden besser im Straßenkampf als Rentner und zweitens werden sich deren Aktivitäten auch gegen eine noch so gut gemeinte Bewegung richten, wenn ihre Interessen darin nicht vorkommen. In Paris ist das dieses Jahr bereits geschehen, als Jugendbanden aus den Vorstädten, die im Herbst selbst wochenlang durch nächtliche Brandanschläge und Scharmützel mit der Polizei für Furore gesorgt hatten, die Großdemonstrationen gegen die inzwischen zurückgenommene Arbeitsmarktreform angriffen, um die Demonstranten auszurauben.

Søren Jansen

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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