Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Alltagsgeschichten braver Bürger

Das Klau-Buch reißt einen nicht gerade vom Hocker

Daß die in diesem kleinen Bändchen versammelten Autoren den Diebstahl nicht als verdammenswerte Bereicherung an anderer Leute mühsam verdientem Wohlstand begreifen, betont der Herausgeber Jörg Sundermeier bereits im Vorwort. Schließlich habe fast jeder schon mal irgendetwas geklaut, meistens sogar ohne schlechtes Gewissen. In den folgenden – sowohl nach Genre als auch nach Qualität sehr unterschiedlichen – Beiträgen überwiegen denn auch die Erzählungen, die das Klauen als subversiv, anarchisch, mutig, gerecht, cool oder wenigstens unausrottbar darstellen.

Als paradigmatisch für die typische Haltung des aufgeklärten und liberalen Großstadtbewohners gegenüber der illegalen Umverteilung von Sachgütern erscheinen die Erzählungen von Stefan Holtkötter und Sonja Fahrenhorst. In Holtkötters Geschichte klagen sich zwei Menschen ausgiebig ihr Leid, daß sie nicht die nötige Nervenstärke zum Stehlen besitzen, als handele es sich um eine gesellschaftlich anerkannte Qualifikation. Fahrenhorst beschreibt in ihren ­ leider bis zum Anschlag mit Klischees durchsetzten ­ Tagebucheintragungen einer Pubertierenden den Ladendiebstahl als charakterbildenden Initiationsritus.

Daß fast jeder noch so brave Bürger schon einmal gestohlen hat, mag richtig sein. Doch der Kaugummidiebstahl eines Siebenjährigen, das Mitgehenlassen dringend benötigter Salzstreuer oder das Einpacken von Hotelhandtüchern ließe sich selbst auf einer Lesebühne kaum zu einer mitteilenswerten Erzählung aufblasen. Und da viele der im Buch vom Klauen veröffentlichten Geschichten offenkundig autobiographisch sind, die gesammelte kriminelle Energie der Autoren des Verbrecher Verlages sich aber in Grenzen hält, müssen wir uns mit Berichten über die Raubzüge von Freunden und Verwandten begnügen. So erläutert uns beispielsweise Christian Dabeler in einem liebevollen Porträt die Machenschaften seines Vaters, der jahrzehntelang als Keksvertreter der Firma Bahlsen und in eigener Sache seine Geschäfte machte ­ insbesondere mit den sprichwörtlich vom Laster gefallenen Keksproben.

Neben derartigen leichtfüßig aufbereiteten Alltagsgeschichten finden sich auch Sachbeiträge, die sich ­ zumeist ein wenig hölzern und blutarm ­ den oft vernachlässigten Aspekten des Stehlens zuwenden: Jürgen Kiontke untersucht den Zusammenhang von Psychiatrie und Diebstahl, der frühere Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt besinnt sich auf die erotische Wirkung des Klauens und Beklautwerdens, Emilija Mitrovic erklärt, was unter Beischlafdiebstahl zu verstehen ist, und Friedhelm Rathjen kann von seinem Lieblingsthema (s. scheinschlag 3/03) nicht lassen und liefert einen Essay über den Fahrradklau in den Werken Samuel Becketts.

Aus dem Rahmen fällt eigentlich nur der Beitrag von Horst Tomayer. Sein Haßgedicht auf Fahrraddiebe läßt keinen Zweifel aufkommen, daß er für diese Art der ungefragten Entwendung keinerlei Verständnis aufbringen kann: „Ja, das schändlichste Verbrechen/Ist das Fahrradschloßaufbrechen/Ja schlimmer als Kleinkinderficken, Robbenbabyentkleiden oder Hostienbespein." Nach all den Lobeshymnen auf gewiefte Kleinkriminelle ist dieses Gedicht ein wahres Labsal.

Susann Sax

> Jörg Sundermeier (Hg.): Das Buch vom Klauen. Verbrecher Verlag, Berlin 2006. 13 Euro

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