Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Bourgeoisie an die Wand kleben

In Mitte plakatiert der französische Street-Artist SP 38 seit einem Jahr „Vive la Bourgeoisie" auf alte und neue Häusermauern

SP 38 hat eines mit Comic-Cowboy Lucky Luke gemeinsam: Er ist schneller als sein Schatten, wenn auch nur mit dem Kleisterpinsel. Sein Künstlername, der auf einen Polizeirevolver Bezug nimmt, spiele auf das Talent der französischen Comiclegende an, erklärt er in seinem Atelier in der Invalidenstraße. Durch die Fensterscheiben sieht man die jüngst renovierte Schinkel-Kirche; auf dem Boden liegt ein zwei mal zwei Meter großes, noch weißes Plakat, bereit für neue Slogans.

Die Plakate sind dann in Mitte, auf der linken Spreeseite, öfters zu finden: Blau auf weiß liest der interessierte Passant „Vive la Bourgeoisie" oder „On the water it's dry." Bevor SP 38 begann, in Berlin zu plakatieren, lebte er in der Normandie, in Paris und Brüssel. Im normannischen Cherbourg studierte er zunächst an der Kunsthochschule Graphik und ging dann in den 80er Jahren nach Paris. Dort faszinierten ihn die Großstadt mit ihrer Hektik, die grellen Farben und die durch die amerikanische Graffiti-Kultur beeinflußte Pariser Street-Art. Der Street-Artist, der seinen bürgerlichen Namen nicht nennen will, wird Mitglied der Hausbesetzerszene, den artistes squatteurs, die leer stehende Industriekomplexe besetzen, um sie zu Kunstzentren umzugestalten.

Daß er dann vor elf Jahren nach Berlin zog, war kein Zufall: „Berlin war in den 90er Jahren ein mystischer Ort für Leute wie mich. Hier konnte man sehen, was möglich war in der Street-Art." Das erste Plakat, das SP 38 an die damals noch zahlreichen bröckelnden Nachwende-Häusermauern klebte, zeigte Jesus am Kreuz: zwei Nägel durch die Handflächen, einen durch den dornengekrönten Kopf. Daneben der Satz: „Just do it." Später plakatierte er „Fuck Chirac", um so gegen die französischen Atomversuche zu protestieren.

Anstatt sich weiter mit affärengeplagten, französischen Präsidenten zu beschäftigen, klebt SP 38 jetzt lieber das neue Mitte-Bürgertum an die Wand. Auslöser war die Renovierung der Polizeistation an der Ecke Brunnen-/Invalidenstraße: „Als man dort begonnen hat, alles neu zu machen, da wußte ich, daß jetzt die Bourgeoisie und die Yuppies kommen." Auf den Slogan, der ja eigentlich ein Protest sei, gebe es oft amüsierte Reaktionen, sowohl von deutschen Passanten als auch von französischen Touristen, sagt er. Allerdings gäbe es bei den Franzosen auch solche, die sich durch den Slogan angegriffen fühlten: „Die merken wohl, daß es ironisch auf sie abzielt, vor allem wenn sie aus Paris kommen."

Die Plakat-Kleberei ist dabei, neben dem beabsichtigen Statement, wie Gymnastik für den Aktionskünstler. Meist fährt der 46-Jährige mit seinem schwarzen Fahrrad durch das Viertel, einen Eimer Kleister in der rechten Hand, auf dem Gepäckträger die Plakate, ordentlich zusammengefaltet. Da er ausschließlich im öffentlichen Raum arbeitet, hat ihn die Polizei öfters im Visier, kontrolliert seine Personalien, wenn sie den Kleister-Cowboy denn faßt. „Aber die merken schnell, daß ich ja nur Plakate klebe und nichts dauerhaft beschädige. Und meist klebe ich auf alte Mauern." Auf die frisch renovierten Mitte-Mauern klebt SP 38 natürlich auch gerne, sonst mache sein Protest ja keinen Sinn. Daß diese dort dann nur selten länger bleiben, liege wohl daran, daß die „bürgerlichen" Hausbesitzer diese bald wieder entfernen würden, vermutet er.

Neben den einfachen, direkten Slogans plakatiert er einfach gemalte Motive wie Wale oder Flugzeuge in den Farben blau, rot oder gelb: „Das Flugzeug ist ein Symbol der Freiheit, aber auch für Terrorismus" und die „Wale sind vom Ausstreben bedroht", erklärt er. Vielleicht fühlt er sich auch den Walen verwandt, denn auch SP 38 könnte bedroht sein durch die fortschreitende Sanierung von Mitte und das Verschwinden der letzten Brachen: Wo vor kurzem noch der Putz bröckelte und Brachland durch Holzzäune abgeschirmt wurde, wird heute neu gestrichen und ein Bürohaus nach dem nächsten hochgezogen: „Was den Zauber von Mitte ausgemacht hat, das war die große Zahl an jungfräulichen, alten Mauern. Das verschwindet jetzt." Deshalb hat SP 38 begonnen, sich umzuorientieren: „Ich ziehe inzwischen fast schon das Land der Stadt vor." Auf der Ostseeinsel Rügen besitzt er jetzt ein Atelier, und seine aktuelle Ausstellung „reversible 2" ist derzeit im eher kleinstädtischen österreichischen Feldkirch zu sehen. Falls SP 38 tatsächlich einmal mit der Kunst aufhören sollte, dann aus einem anderen Grund: „Die Kunst ist wie eine Therapie für mich. Wenn ich geheilt bin, höre ich auf."

André Glasmacher

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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