Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Workaholics des Vergnügens

Dimiter Gotscheff inszeniert an der Volksbühne Das große Fressen

Schon seit einiger Zeit pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in einer ästhetischen Krise sei. Wie zum Hohn für den Hausherren Frank Castorf und sein Ensemble forderte vor Jahresfrist nun gar der Bundespräsident höchstselbst die Rückbesinnung aufs werktreue Theater, das an der Volksbühne doch längst mit einem Staatsbegräbnis erster Klasse verabschiedet worden war. Und jetzt verbünden sich auch noch Der Spiegel und die Boulevard-Presse und verkünden, daß Berlins und Deutschlands Bühnen von versautem Ekel-Theater beherrscht würden. Soviel Theater-Debatte war lang nicht mehr, und da kommt es gerade recht, daß Dimiter Gotscheff mit seiner Volksbühnen-In-szenierung Das große Fressen (nach dem gleichnamigen Film von Marco Ferreri) auf alles eine kräftige Antwort weiß: Er bringt nahezu jede erdenkliche Sauerei auf die Bühne, indem er sich erdreistet, absolut werktreu zu spielen – Horst Köhler wird's ihm danken! – und durch sein grandioses Scheitern schultert er auch noch ganz nebenbei, gleichsam als Sündenbock, die gesamte Volksbühnen-Krise.

Dimiter Gotscheff ist der Mann der Stunde. Gerade erhielt der Bulgare für seinen im Bühnennebel der Melancholie versenkten Tschechowschen Iwanow, die beste Volksbühnen-Produktion der letzten Jahre, den 3sat-Preis des Berliner Theatertreffens. Und am Deutschen Theater hat er vor ein paar Monaten die elisabethanische Komödie Volpone mit einer Boshaftigkeit hingerotzt, die derzeit ihresgleichen sucht. Nun also Das große Fressen. Was dem Iwanow der Nebel, ist hier der Schaum. Auf die mit Ausnahme weniger Requisiten leere Bühne (Katrin Brack) gehen Unmengen von Schaum hernieder, die ­ als eine Art monumentale Flüssigskulptur ­ eine Welt bilden und sie zugleich unter sich begraben. Das ist das Setting: eine gigantische Schaumparty, die selbst am Ballermann, dem deutsch-mallorquinischen Fun-Paradies Nr. 1, noch Eindruck machen würde.

Darauf entfaltet sich ­ und zwar buchstäblich, Wort für Wort ­ die Handlung des Films: Vier lebensüberdrüssige Männer ziehen sich auf ein Gut zurück, um sich in selbstmörderischer Absicht zu Tode zu fressen. Bei Marco Ferreri waren das im Jahre 1973 Michel Piccoli, Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi und Philippe Noiret, und diese vier Herren fraßen bei aller Drastik auf eine kultivierte und verfeinerte Weise. An der Volksbühne sind es die Castorf-Recken Herbert Fritsch, Marc Hosemann und Milan Peschel sowie der herrliche Samuel Finzi ­ Gotscheffs unverzichtbarer Hauptrollenspieler. Diese Viererbande allerdings, zu der sich später noch ein extraordinär ordinäres Frauenquartett (Almut Zilcher, Rosalind Baffoe, Anne Ratte-Polle und Frank Büttner (!)) gesellt, hat mit Kultiviertheit nicht viel am Hut. Wie ihre Vorgänger kochen, vögeln und furzen sie um die Wette, doch im Unterschied zu jenen absolvieren sie ihren letzten Parcours mit virtuos-mechanischer Freudlosigkeit ­ sie sind Getriebene, Worka-holics des Vergnügens. Man rutscht quietschend im Schaum, schiebt sich lustlos Rohkost rein und zelebriert den Leerlauf. Und letzterer wird leider zum Problem des Abends, denn Abbildung des Leerlaufs durch Leerlauf läuft schnell leer. Allzuoft wähnt man sich in einer gewöhnlichen Volksbühnen-Inszenierung, in der ein paar Castorf-Schauspieler ihrem Affen Zucker geben. Das ist schade, denn die Bildkraft der Aufführung ist enorm, und Gotscheffs Ansatz erscheint im Grunde völlig plausibel.

Verunglimpft man die Menschheit, indem man feststellt, daß die gewaltig überwiegende Mehrzahl aller Menschen unter dem „Glücke Fressen und Saufen versteht?" fragte Thomas Mann 1918. Von Mann zu Gotscheff ist ein weiter Weg, doch noch immer scheint dieser Glücksbegriff zur Debatte zu stehen. Mit seinem großen Schaumbad stellt Gotscheff einer hedonistischen Gesellschaft die Diagnose: Am Ende erstarren die vier männlichen Darsteller einer nach dem anderen und sitzen als glotzende und schaumbedeckte Leichen am Tisch. Sie glotzen ins Publikum. Das hat sich jedoch nicht wiedererkannt, sondern amüsiert oder gelangweilt, schließlich ist man ja nur im Theater.

Raoul Golwenberg

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 05 - 2006 © scheinschlag 2006